- 11.05.2024
- Kategorie Kulturgeschichte Politik / Gesellschaft
»Diggi-loo diggi-ley, alla tittar på mig« — Darstellungen Schwedens im Eurovision Song Contest
Gastbeitrag von David Engh-Bongers
Heute ist es soweit und es heißt wieder: »Good evening Europe!« Nach dem letztjährigen Sieg der schwedischen Sängerin Loreen wird am 11. Mai 2024 der 68. Eurovision Song Contest in Malmö ausgetragen. Viele Augen werden dann im Rahmen des Wettbewerbs, der von bis zu 204 Millionen Zuschauer_innen verfolgt wird, auf Schweden gerichtet sein – nicht zuletzt auch auf Grund des diesjährigen 50. Jubiläums von ABBAs ESC-Sieg im Jahr 1974 – und so wird die Zeile »Diggi-loo diggi-ley, alle sehen mich an« (Diggi-loo diggi-ley, alla tittar på mig) aus dem schwedischen Gewinnersong der Band Herreys von 1984 zu einer treffenden Zustandsbeschreibung. Gleichzeitig fängt diese Zeile die Vorreiterrolle ein, die Schweden häufig im Hinblick auf gesellschaftliche Progressivität, das Wohlfahrtsstaatsmodell oder eben auch innerhalb des Eurovision Song Contests zugesprochen wird: Seit ABBAs großem Erfolg mit »Waterloo« kann Schweden eine lange Tradition erfolgreicher ESC-Teilnahmen vorweisen. Insgesamt sieben Siege stehen zu Buche, entsprechend häufig durfte Schweden den ESC ausrichten, und Jahr für Jahr werden schwedische Beiträge von Fans und Medien als Favoriten gehandelt. Zwar wird der ESC häufig als kitschig und exzentrisch verschrien, doch bietet der vorgeblich als unpolitisch deklarierte Wettbewerb seinen Teilnehmerländern eine Projektionsfläche für nationale und kulturelle Darstellungen sowie immer wieder einen Schauplatz für politische Auseinandersetzungen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Bilder und Vorstellungen der ESC über Schweden produziert und transportiert.
Bedeutungsproduktion durch Begegnung
Der ESC stellt einen paneuropäischen gesellschaftlichen Reflexionsraum dar, in dem kontinuierlich Identität ausgehandelt und neue Bedeutung produziert wird. Dies geschieht insbesondere durch Begegnung. Was Georg Simmel einst als Grenzwüste, einen neutralen Ort für Kontaktaufnahmen und Warenaustausch zwischen gegensätzlichen Parteien, bezeichnete, ist heute am Beispiel des ESCs ein internationales Medienspektakel, bei dem das Eigene und das Fremde in Kontakt miteinander treten. Während der ESC zunächst als Medienkooperation zwischen den europäischen Rundfunkanstalten begann, entwickelte er mit der Zeit eine eigene Dynamik und wurde »vom Komponistenwettbewerb zu einem Nationenwettkampf, bei dem die musikalische Dimension gegenüber der politischen und national-kulturellen in den Hintergrund rückte«, konstatiert der Kulturwissenschaftler Irving Wolther. Insbesondere die jeweiligen Gastgebernationen nutzen den Wettbewerb zunehmend für die Selbstpräsentation vor einem internationalen Publikum, was sich als Nation Branding bezeichnen lässt. Der Politikwissenschaftler Simon Anholt führte den Begriff ein, um mit ihm die strategische Absicht von Akteur_innen, ein bestimmtes Bild ihres Nationalstaates zu produzieren und zu kommunizieren, zu beschreiben. So überrascht es nicht, dass sich besonders im Rahmen der in Schweden stattfindenden ESC-Austragungen national-kulturelle Darstellungen Schwedens finden lassen.
Darstellungen im Kontext des schwedischen Wohlfahrtstaats
Der starke Wohlfahrtsstaat ist über lange Zeit Schwedens Aushängeschild gewesen und bildete das Fundament eines schwedischen Staatsindividualismus. Durch die ausgeprägte staatliche Institutionalisierung der Fürsorge erlangte das Individuum Unabhängigkeit von der traditionellen Familie und etablierten Hierarchien. Kritiker_innen des Wohlfahrtsstaates hingegen äußern Befürchtungen, dass die Autonomie des Individuums zu fehlendem Verantwortungsbewusstsein und emotionaler Kälte führe. Beide Seiten werden in den Darstellungen Schwedens im ESC reflektiert. Dabei wird erheblich auf bekannte Stereotype zurückgegriffen, die auf überspitzte Weise reproduziert und ad absurdum geführt werden. So werden etwa in einem Einspielfilm im Finale 2013 verschiedene vermeintlich typische Situationen im schwedischen Alltag präsentiert. Der Film zeichnet das Bild eines säkularisierten Landes, in dem gleichzeitig traditionelle Rituale ihre Bedeutung behalten. Ebenso wird niemand privilegiert, niemand stellt sich in den Mittelpunkt und es herrschen flache Hierarchien und Gleichheit. Auf humoristische Weise wird der schwedischen Bevölkerung zudem ein Mangel an individuellem Entscheidungswillen zugeschrieben. Im Interval-Act »Swedish Smörgåsbord« werden im Finale 2013 weiter sämtliche Stereotype über die schwedische Gesellschaft verhandelt. Darunter auch die zugeschriebene Reserviertheit und emotionale Kälte: »Our people are cold«, »Don’t show emotion, never whine« oder »Proper and polite and private is our style, never ever talk on a train«.
»Come together« – Schweden als multikulturelle Gesellschaft
Obwohl Schweden seit der Nachkriegszeit als Einwanderungsland gilt, wird die multikulturelle Gesellschaft Schwedens im ESC erst ab der Mitte der 1990er- bzw. Anfang der 2000er-Jahre reflektiert. Nachdem die Moderator_innen das Publikum des Wettbewerbs im Jahr 2000 über mehrere Minuten in sämtlichen Sprachen der zuschauenden Länder begrüßt und damit die Weltoffenheit Schwedens zur Schau gestellt hatten, folgt in den kurzen Videovorstellungen der auftretenden Acts der sehr gewollt wirkende Versuch einer Inszenierung Stockholms als multikulturelle Stadt. So werden etwa niederländische Forscher_innen in einem Labor für Mikrobiologie, ein britischer Fußballtrainer in einem Stockholmer Stadion oder ein estnischer Chor bei der Probe in einem Stockholmer Mietshaus dargestellt. Seit den 2010er-Jahren wird die Heterogenität Schwedens durch die wachsende Zahl migrantischer Künstler_innen, die Schweden im ESC vertreten, noch weiter sichtbar. Im Rahmen des Eurovision Song Contests 2013 begrüßt der schwedische Fußballer Zlatan Ibrahimović, Sohn eines Bosniers und einer Kroatin, die Zuschauer_innen in seiner Heimatstadt Malmö. Er wird in diesem Kontext als selbstverständliches Mitglied der schwedischen Gesellschaft präsentiert und dient als Symbolfigur für Integration in Schweden. Der in Stockholm ausgetragene ESC 2016 fand unter dem Motto »Come together« vor dem Hintergrund der weltweiten sogenannten Flüchtlingskrise statt. Das Motto symbolisiert die Fremd- und Selbstwahrnehmung Schwedens als heterogenes Land, in dem unterschiedliche Menschen zusammenkommen können. Performativ dargestellt wird dieses Verständnis im Interval-Act »The Grey People«, der sich als Aufruf zur Solidarität mit Geflüchteten lesen lässt.
»We are one« – Schweden als Teil Europas
Während in den ESC-Shows 1975 und 1985 keine ausdrückliche Positionierung Schwedens zu Europa erkennbar ist, beginnt 1992 im Rahmen der Darstellungen Schwedens im ESC eine zunehmende Hinwendung zu Europa als vorgestellter Gemeinschaft, in der Schweden ein selbstverständliches Mitglied ist. So sendet der Interval-Act im Finale 2000 etwa die Botschaft aus, dass trotz der kulturellen Unterschiede in Europa die Gemeinsamkeiten der europäischen Länder überwiegen. Noch deutlicher treten die Positionierungen Schwedens zu Europa in den Wettbewerben 2013 und 2016 zu Tage, in denen Schweden schließlich als Vermittlerland inszeniert wird, das vor dem Hintergrund wachsenden Misstrauens gegen die EU europäische Werte wie Toleranz, Solidarität, Gleichheit und Freiheit betont und an den Zusammenhalt der europäischen Länder untereinander appelliert. Mit dem Motto »We are one« legt man 2013 in einer krisenbehafteten Zeit Europas den Fokus auf die europäische Wir-Gemeinschaft. Gleichzeitig kommen im Laufe der Zeit immer wieder Darstellungen Schwedens im ESC vor, die auch die Wahrnehmung Schwedens als Teil einer nordischen Gemeinschaft befördern.
Von A wie Astrid Lindgren bis Z wie Zlatan Ibrahimovic
In einer globalisierten Welt greifen die einzelnen Länder im Rahmen ihrer Darstellungen im ESC verständlicherweise auch auf Elemente zurück, die bereits international bekannt sind. Dabei handelt es sich häufig um Marken, Literatur und Prominente. Am Beispiel Schwedens werden im ESC etwa Sportler wie Björn Borg oder Zlatan Ibrahimovic, Schriftsteller_innen wie August Strindberg, Astrid Lindgren oder Stieg Larsson sowie Musik-Acts wie ABBA, Avicii, Europe oder Roxette als Repräsentant_innen der schwedischen Gesellschaft genannt. Weiter werden Alfred Nobel, Greta Garbo oder Ingmar Bergman sowie Marken wie IKEA, H&M oder Volvo erwähnt. In diesem Zusammenhang werden individuelle Erfolge stark mit der Nation verknüpft und so wird Schweden im ESC als in sportlicher, wirtschaftlicher, kultureller und besonders musikalischer Hinsicht international sehr erfolgreiches Land inszeniert.
Wikinger, Mythologie und weite Natur
Schweden wird im ESC häufig mit Bildern weiter unberührter Natur dargestellt, die an romantisierende und mystifizierende Vorstellungen aus der Nationalromantik anknüpfen. Dies geht einher mit einem ausgeprägten Vergangenheitsbezug zwischen den 1970er- und 1990er-Jahren, der sich durch Wikingerdarstellungen oder Referenzen auf die nordische Mythologie äußert. So wählte man beispielsweise als Bühnenhintergrund für den ESC 1992 in Malmö die Darstellung eines Wikingerschiffs oder präsentierte im Rahmen eines Vorstellungsvideos im ESC 2011 einen Schweden im stereotypen Wikingerkostüm. Dem gegenüber steht die Betonung von Modernität und Progressivität seit den 2000er-Jahren.
ABBA und das schwedische Popwunder
Der erste in Schweden ausgetragene ESC 1975 wurde von einer breiten Protestbewegung begleitet, die die Kommerzialisierung des Wettbewerbs anprangerte und ABBA für ihre internationale Ausrichtung, das Singen auf Englisch und ihren kommerziellen Erfolg kritisierte. So verwundert es nicht, dass im Rahmen der Show keine Bezüge zum wachsenden internationalen Erfolg ABBAs zu finden sind. Während 1985 noch Volksmusik als typisch schwedisch präsentiert wurde, wandelt sich das Selbstbild Schwedens ab 1992 hin zur Darstellung eines Landes, das inzwischen besonders durch Popmusik international bekannt ist. Obwohl ABBA mit ihrem ESC-Sieg eine internationale Karriere starten konnte, die die Band zu einer der erfolgreichsten weltweit machte und das Schwedenbild im Ausland prägte, wird ABBA erst vergleichsweise spät zu einem Teil der Darstellungen Schwedens im ESC. Erst in den 2010er-Jahren wird ABBAs Bedeutung für die Entwicklung Schwedens zur erfolgreichen Musikexportnation im ESC vollends anerkannt.
Humor als Kommunikationsmittel
Viele der Darstellungen Schwedens im ESC haben eine Gemeinsamkeit: Die Verwendung von Humor als Kommunikationsmittel. Anders als Länder, die in ihrer nationalen Identität nicht gefestigt zu sein scheinen, kann Schweden, das eine klare Vorstellung davon zu haben scheint, was es auszeichnet, sich selbstironisch darstellen. Analog zum Einsatz von Humor in der Werbung ist davon auszugehen, dass die Zuschauer_innen durch den Einsatz von Selbstironie und Komik ein positives Bild von Schweden gewinnen und das Land mit positiven Emotionen verknüpfen sollen. Gleichzeitig dient Humor als Mittel der Distanzierung von generalisierenden Aussagen.
Wie Schweden sich in diesem Jahr präsentieren wird, bleibt abzuwarten. Es ist anzunehmen, dass die Tatsache, dass Schweden von zwei norwegischen Musikern repräsentiert wird, die Vorstellung von einer nordischen Gemeinschaft, die sich durch geographische und kulturelle Nähe sowie gegenseitige Unterstützung und gemeinsame Werte kennzeichnet, weiter befördert. Es zeigt sich, dass der ESC ein spannendes popkulturelles Forschungsfeld für national-kulturelle Fremd- und Selbstbilder bietet, das sich im Auge zu behalten lohnt.
David Engh-Bongers ist Masterabsolvent des Instituts für Fennistik und Skandinavistik an der Universität Greifswald.