Grenzüberlegungen

von NORDfor

Ein Kommentar von Per Øhrgaard

zum Editorial 2020 von Joachim Grage „Dänisch-deutsche Geschichtsvergessenheit“

und zum Gastbeitrag von Friis Arne Petersen

„Erinnerung und Politik: Ein Blick auf Geschichte und Kultur im deutsch-dänischen Austausch 2017–2020“

 

Eigentlich nachdenkenswert, dass Dänemark im 19. Jahrhundert zwei Kriege führte, um nicht der homogene Nationalstaat zu werden, auf den viele Dänen später so stolz wurden. Genau genommen kämpften »wir«, um eine große deutsche Minderheit im dänischen Staat zu halten. Als Island 1943 von dem vertraglich gesicherten Recht, sich ganz selbständig zu machen, Gebrauch machte, war man in Dänemark etwas pikiert: mussten die das denn mitten im Krieg tun? Ja, mussten sie wohl, um die Gelegenheit nicht zu verpassen. Aber was heißt überhaupt homogen? Noch gehören die Färöer und Grönland zur sogenannten Reichsgemeinschaft. Auch ohne Immigration aus ferneren Ländern ist Dänemark ein mehrkultureller Staat.

Nach der Niederlage 1864 gab es Stimmen für einen Anschluss an den Deutschen Bund: Dänemark sei zu klein geworden, um aus eigener Kraft zu überleben. Es kam anders, Gott sei Dank – oder wäre die deutsche Geschichte womöglich anders verlaufen, wenn Dänemark Teil davon gewesen wäre? Stattdessen definierte sich dänische Identität – was immer das sei – weitgehend durch die Distanz zum großen Nachbarland. In den 1930er Jahren gab es nicht wenige Dänen, die mit dem italienischen Faschismus sympathisierten, aber nur eine winzige Minderheit, die sich für den deutschen Nationalsozialismus erwärmen konnte. Die Düppeler Schanzen waren eine Art Impfung gewesen: was aus Deutschland kam, fasste man besser mit spitzen Fingern an.

Dabei war und blieb Deutschland der große Nachbar, über den man sich möglichst genau informieren, der einem aber besser nicht auf den Pelz rücken sollte. Hätte Dänemark in den 1930er Jahren militärisch aufgerüstet, was einige Kreise befürworteten, hätte es vielleicht den Zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite mitgemacht. Denn Deutschland hätte einem erstarkten Dänemark nicht tatenlos zugeschaut, sondern entweder die Grenzfrage neu aufgerollt oder – eher – Dänemark eine Partnerschaft angeboten. Der hätte man sich schlecht entziehen können, zumal die Briten 1935 durch das Flottenabkommen mit Deutschland deutlich zu erkennen gegeben hatten, dass sie die Ostsee und damit Dänemark als deutsche Interessensphäre anerkannten.

Die abgerüstete Neutralität hatte also den Zweck, Deutschland keinen Vorwand zum Näherkommen zu liefern. Mit Arglosigkeit, wie später zuweilen behauptet wurde, hatte das nichts zu tun, ganz im Gegenteil: Im Winter 1939–40 wurden die dänischen Goldreserven vorsorglich außer Landes gebracht, vornehmlich nach den USA.

Man stelle sich vor, dass wir 1940–45 keine Deutschkenntnisse gehabt hätten! Die Okkupation wäre anders verlaufen. Nicht nur verstanden wir, was die Deutschen uns zu sagen beliebten, sondern wir konnten auch vieles mithören. Hohe dänische Beamte und einige Spitzenpolitiker konnten mit der Besatzungsmacht in deren Sprache verkehren, und bei aller Ungleichheit der Machtverhältnisse verschaffte man sich Respekt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es nicht lange, bis Dänemark enger mit Deutschland verknüpft war als je zuvor. Die NATO-Mitgliedschaft von 1949 bedeutete eine Allianz mit den Mächten, die in (West-)Deutschland das Sagen hatten, später mit der Bundesrepublik selbst. Seit 1961 ist mit dem militärischen Einheitskommando für Schleswig-Holstein und Jütland der Schulterschluss perfekt. Generationen dänischer Politiker, die auf leise, aber deutliche Distanz zu Deutschland gesetzt hatten, werden in ihren Gräbern rotiert haben. Doch der Kalte Krieg überlagerte das spezifisch dänisch-deutsche Verhältnis und ließ daher Deutschland qua Deutschland nach und nach hinter dem Horizont verschwinden.

Heute sind die beiden Länder auf vielen Gebieten einander näher denn je – und wissen oft weniger über einander als früher; eine Entwicklung, die auf dänischer Seite maßgeblich durch den rapiden Verfall der Deutschkenntnisse verursacht ist. Dieser Verfall hat mit Krieg und Okkupation nichts zu tun – dann hätte er viel früher einsetzen müssen –, sondern mit den Veränderungen in der Medienwelt, mit dem Internet, mit der sprachlichen Standardisierung der Wissenschaft usw. – alles Entwicklungen, die auch Deutschland erfassen. Das größere Land hat sich dabei schwerfälliger erwiesen – Beispiel Digitalisierung – kann aber dafür vielleicht die Auswüchse noch vermeiden, die sich im übereifrigen Dänemark zeigen.

Die deutsche Dominanz in Europa nimmt man in Dänemark meistens entspannt zur Kenntnis, weil Dänemark bis auf Weiteres davon profitiert. In der Schuldenkrise um 2010 hat das offizielle Dänemark Deutschland dessen desaströse Politik nicht übel genommen, in der augenblicklichen Krise ist Dänemark dafür auf Distanz zur diesmal konstruktiven deutschen Politik gegangen. Vor allem Letzteres scheint mir nicht nur unklug, sondern auch schwer zu erklären.

Nationale Stereotype gibt es immer und überall, also sollte man die gelegentlich auftretenden Unmutsäußerungen Einzelner nicht überbewerten. Einmal hörte ich einen deutschen Geschäftsmann verächtlich von den Dänen als »diesen Zwergen« reden, umgekehrt wird die angebliche deutsche Effizienz und das gleichsam ’maschinelle’ Denken oft verspottet. Ich halte das für oberflächliche Erscheinungen, die nicht auf eine tiefer sitzende Animosität deuten. Und wenn schon Stereotype, so waren sie auf deutscher Seite oft positiver Art: Die Dänen seien entspannter, weniger verbissen, toleranter usw. (was alles auch auf Eigenstereotype hinwies). Von einem offenen und toleranten Dänemark kann heute keine Rede mehr sein; auch der schwärmerischste Deutsche hat sein Bild korrigieren müssen.

Von weither betrachtet, etwa aus den USA, gibt es kaum zwei Völker in Europa, die sich mehr ähneln als Dänen und Deutsche – das habe ich jedenfalls immer von bereisten Amerikanern gehört. Unter der Lupe studiert fallen eher die Unterschiede auf. Dabei hat das kleine Land Distanz nötiger als das große; auch angetragene Liebe kann für den schwächeren Part anstrengend sein. Zu Recht wollte Dänemark im Jahre 1955 keinen bilateralen Vertrag mit der Bundesrepublik über die Rechte der Minderheiten beiderseits der Grenze abschließen: Im Konfliktfall wäre nur der eine Partner im Stande gewesen, seinen Willen durchzusetzen. Deswegen sind die Kopenhagen-Bonn-Erklärungen einseitig und verweisen die Minderheiten an die Behörden in dem Land, dessen Bürger sie sind.

Ohne einen politischen Vergleich ziehen zu wollen: Als Erich Honecker 1987 die Bundesrepublik besuchte, schrieb Altkanzler Helmut Schmidt, dass man ihn wie einen Bruder empfangen sollte. Ein Bruder ist nicht unbedingt ein Freund, er kann sogar ein Feind sein – aber er gehört ein für alle Mal zur Familie. Dass die ›Familie‹ heute weitgehend harmonisch funktioniert, hat selbstverständlich mit der sozioökonomischen Entwicklung in den beiden Ländern zu tun. Gäbe es zwischen Deutschland und Dänemark und erst recht im Grenzgebiet ein großes Wohlstandsgefälle, sähe vieles gewiss anders aus. Aber freuen wir uns doch über die heutigen Zustände – ohne auf eine ständige Verbesserungsarbeit zu verzichten.

Teile dieses Beitrags wurden bereits in dänischer Sprache veröffentlicht: als Mini-Nachwort in: Axel Johnsen, Grænsen, folket og staten. Grænseforeningens historie 1920–2020. København: Gyldendal 2019, s. 411–413.

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