Der ferne Nachbar. In Dänemark schwindet die kulturelle Bedeutung Deutschlands. Touristen aber sollen Geld bringen.

von NORDfor

Ein Kommentar von Sophie Wennerscheid

zum Editorial 2020 von Joachim Grage „Dänisch-deutsche Geschichtsvergessenheit“

und zum Gastbeitrag von Friis Arne Petersen

„Erinnerung und Politik: Ein Blick auf Geschichte und Kultur im deutsch-dänischen Austausch 2017–2020“

 

Mit dramatischer Stimme und fest in die Kamera gerichtetem Blick führt der bekannte Schauspieler Lars Mikkelsen in der 2020 produzierten Dokudrama-Serie Grænseland (Grenzland) durch ein bewegtes Stück dänisch-deutscher Geschichte und erklärt seinem Publikum, „was es heißt dänisch zu sein“. Dass aus dänischer Perspektive erzählt wird, ist verständlich. Dass es aber keine deutschen Untertitel gibt, ist schade. Denn so würde auch ein deutschsprachiges Publikum verstehen, weshalb Dänemark 1864 nach der verlorenen Schlacht an den Düppeler Schanzen die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg an Preußen und Österreich abtreten muss und damit fast ein Drittel seiner Landesgröße einbüßt. Zwar erhält der König die Zusage, dass die Bevölkerung Schleswigs bei gegebener Zeit selbst entscheiden könne, ob sie zu Dänemark oder zu Deutschland gehören will, doch bleibt das ein leeres Versprechen. Dramatisch wird die Situation als die dänischgesinnten jungen Männer aus Nordschleswig gegen ihren Willen für Deutschland in den Krieg ziehen müssen. Erst als Deutschland den Ersten Weltkrieg verliert und die Grenzen Europas neu geordnet werden, wendet sich das Blatt. Bei den Friedensverhandlungen in Versailles kommt nun endlich die deutsch-dänische Grenzfrage auf die politische Agenda und 1920 wird per Volksabstimmung entschieden, dass aus Nordschleswig wieder das dänische Südjütland wird, Südschleswig inklusive Flensburgs und Sylts aber deutsch bleibt. Als König Christian X auf hohem weißem Ross über die alte Grenze reitet, ist der Jubel bei den meisten Dänen groß. Enttäuscht sind jedoch die, die einen Grenzverlauf südlich von Flensburg gefordert hatten und nun dänische Minderheit in Deutschland sind. Und besorgt sind auch jene, die gerne Deutsche geblieben wären und jetzt Minderheit in Dänemark sind.

100 Jahre nach dem historischen Ereignis, das in Dänemark unter dem Titel „Wiedervereinigung“ läuft, wird unter der Schirmherrschaft der Außenminister beider Länder das deutsch-dänische Freundschaftsjahr 2020 gefeiert. Auf beiden Seiten der Grenze finden zahlreiche Veranstaltungen statt, um die kulturelle Nähe der Nachbarländer zu betonen und die Grenzregion als Vorbild für ein friedliches Zusammenleben in Europa zu stärken. Als Auftaktveranstaltung wurde im Januar im dänischen Nationalmuseum in Kopenhagen eine große Deutschland-Ausstellung eröffnet. Es folgte ein Stummfilmfestival mit selten gezeigten deutschen und dänischen Produktionen. Doch dann hörten Mitte März wegen der Corona-Epidemie alle Feierlichkeiten abrupt auf und die deutsch-dänische Grenze wurde geschlossen.

Menschen, die aus familiären oder beruflichen Gründen an uneingeschränkten Reiseverkehr gewohnt waren, sahen sich mit drastischen Beschränkungen konfrontiert. Vor allem die Mitglieder der jeweiligen nationalen Minderheiten waren irritiert darüber, dass gerade noch Verbundenheit beschworen wurde, nun aber nicht kulturelle Zugehörigkeit, sondern die Staatsbürgerschaft darüber entschied, wer wen besuchen durfte. Schon als Dänemark im Jahr zuvor einen Zaun gegen Wildschweine aus Deutschland errichten ließ, um die Ausbreitung der sogenannten Afrikanischen Schweinepest zu verhindern, stellte sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit solcher Maßnahmen. Was ist gesundheitspolitisch sinnvoll und wo werden diffuse Ängste vor dem bedrohlichen Fremden geschürt? Die nationalkonservative Dänische Volkspartei zumindest war schnell dabei, die Corona-Krise als Argument anzuführen, um für den zentralen Punkt ihres Parteiprogramms zu werben: „Ein sicheres Land hinter einer bewachten Grenze.“

Dass sich die Partei mit der Forderung nach dauerhaften Grenzkontrollen nicht durchsetzen konnte, hat nicht zuletzt mit Wirtschaftsinteressen zu tun. Auf Druck des dänischen Touristenverbandes gab die sozialdemokratische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen deshalb am 29. Mai bekannt, dass die Grenze zumindest ein Stück weit wieder geöffnet werden sollte. Ab dem 15. Juni, auf den Tag genau vor hundert Jahren als König Christian X die deutsch-dänische Grenze überritt, können deutsche, norwegische und isländische Touristen wieder nach Dänemark einreisen. Allerdings nur, wenn sie eine Ferienhausbuchung von sechs Tagen vorweisen und nicht in Kopenhagen übernachten. Möchte der Partner einer dort lebenden Deutschen seine Freundin besuchen, muss er sich ihre Beziehung in einer schriftlichen Erklärung bestätigen lassen und an der Grenze vorzeigen. Die Anzahl Einreisender soll so gering wie möglich gehalten werden, aber Geld soll ausreichend ins Land kommen.

Doch bei Grenzangelegenheiten kann es nicht nur um „harte Valuta“ gehen. Die „Währung Freundschaft“ ist mindestens genauso wichtig, betont die dänische Direktorin des Think tank Europa Lykke Friis. Schärfer formuliert es der dänische Journalist und Autor Knud Vilby. In seinen Augen forciert Frederiksens Regierung einen „Dänen-zuerst-Nationalismus“, der über die Abgrenzung nach außen Geschlossenheit nach innen bewirken soll. Dass die Ministerpräsidentin mit ihrer Hygge-Rhetorik – der dänischen Form identitätsstiftender Gemütlichkeit – nationale Interessen über europäische stellt, wird auch an der Ablehnung des von Angela Merkel eingeforderten Europäischen Hilfsfonds deutlich. Doch auch wenn die dänische Regierung ihre Sparpolitik vermutlich nicht gegen Deutschland durchsetzen kann, fragt sich, welchen Stellenwert Deutschland für Dänemark aktuell spielt, politisch wie kulturell.

Dass der große Nachbar im Süden der wichtigste Handelspartner Dänemarks ist und in den dänischen Medien immer wieder auf Deutschland als führende Kraft in Europa verwiesen wird, ändert nichts an der Tatsache, dass Deutschland als kulturelle Größe stark an Bedeutung verloren hat. Heute geben die angloamerikanischen Länder den Ton an. Selbst die Deutschland-Ausstellung wurde aus Großbritannien eingekauft.

Bemerkbar macht sich die neue Leitkultur in Dänemark aber vor allem an der zunehmenden Unlust an Mehrsprachigkeit. Wer so hervorragend Englisch spricht wie die Dänen, ist wenig motiviert, eine zweite oder gar dritte Fremdsprache zu lernen. Von politischer Seite wird wenig dafür getan, das zu ändern. Obwohl dänische Wirtschaftsverbände seit Jahren betonen, dass es an Fachkräften mit guten Deutschkenntnissen mangelt und die Schulen befürchten, dass es bald keine qualifizierten Deutschlehrer mehr geben wird, sinken die Zahlen der Germanistik-Studierenden. Von den rund 4.500 Studienanfängern an der Universität Aalborg wählten 2019 nur fünf Studierende das Bachelorfach Deutsch. Trotz starker Proteste wurde der Studiengang daraufhin geschlossen. Der Germanistik an den übrigen Universitäten in Dänemark geht es aber besser als ihrem Ruf. An der Universität Århus begeistert Professor Søren Fauth seine Studierenden für die deutsche Sprache, Literatur und Kultur. Einige seiner Studierenden produzieren dort die hörenswerte Podcastserie „Deutschstunde“. Und an der Universität Kopenhagen forscht man am Institut für Anglistik, Germanistik und Romanistik gemeinsam zu den Anfängen und der kulturellen Reichweite einer „European Republic of Letters“.

Wenn die Grenzen nun wieder öffnen und alle merken, wie sehr das Reisen und die Kultur während des Lockdowns gefehlt haben, bedeutet das für das deutsch-dänische Freundschaftsjahr 2020 eine neue Chance. In Kopenhagen jedenfalls wird nach der erzwungenen Pause wieder mit voller Kraft gearbeitet. „Wir wollen Eva Menasse, Ingo Schulze und Sascha Stanišić für Lesungen im Norden einladen“, erklären Mitarbeiterinnen des Goethe-Instituts Dänemark. Und wenn es dann auch noch gelingen sollte, dass die Namen von dänischen Gegenwartsautorinnen und -autoren wie Christina Hesselholm, Jonas Eika und Naja Marie Aidt nicht fragende Blicke, sondern wissendes Lächeln als Reaktion hervorrufen, dann ist die Antwort auf die Frage, was es heißt dänisch oder deutsch zu sein, weniger wichtig als die gegenseitige Aufmerksamkeit für das, was im Nachbarland geschieht.

Dieser Beitrag ist unter dem Titel „Deutsch als Auslaufmodell – Warum Dänemarks Interesse an deutscher Kultur schwindet“  im Tagesspiegel erschienen.