Deutsche Islandbilder

von Michael Penk

Isländisches Idyll bei Ísafjörður
Flickr, CC-BY neate photos

In der Oktober-Ausgabe 2012 der isländischen Kulturzeitschrift „Tímarit Máls og menningar“ (www.tmm.is) rezensiert Ólafur Guðsteinn Kristjánsson vier aktuelle Bücher von deutschen Autoren, die sich allesamt mit Island und der Mentalität der Isländer auseinandersetzen. ((Ólafur Guðsteinn Kristjánsson, Allir Íslendingar eru blátt áfram framkvæmdaglaðir listamenn, náttúrubörn og víkingar og sannlega einstakir í sinni röð, in: TMM 3 (2012), S. 108–112.))

Im Einzelnen setzt sich der Rezensent mit Alles ganz Isi ((Alva Gehrmann: Alles ganz Isi. Isländische Lebenskunst für Anfänger und Fortgeschrittene. München 2011.)) von Alva Gehrmann, Ein Jahr in Island ((Tina Bauer: Ein Jahr in Island: Reise in den Alltag. Freiburg et al. 2011.)) von Tina Bauer, Mein Sagenhaftes Island ((Henryk M. Broder: Mein sagenhaftes Island. Augsburg 2011.)) von Henryk M. Broder und Wo Elfen noch helfen ((Andrea Walter: Wo Elfen noch helfen: Warum man Island einfach lieben muss. München 2011.)) von Andrea Walter auseinander. Kristjánsson ist der Meinung, dass die Autoren Island als eine Art Utopie betrachteten, einen Ort, wo jeder Insulaner ein Vulkan der Kreativität sei, der nur darauf warte, auszubrechen. Die Autoren behaupteten gewissermaßen, dass der „Alltag [auf Island] so aufregend […] sei wie woanders ein Abenteuerurlaub […]“ ((Broder 2011, zitiert in Kristjánsson, S. 109–110.)) und dass die Sängerin Björk auf Island „ein ganz normaler Mensch“ ((Walter, S. 67, zitiert in Kristjánsson, S. 110.)) sei. Kristjánsson sieht Parallelen zu Islandbeschreibungen anderer deutscher Autoren im Laufe zurückliegender Jahrhunderte. So wie heute hätten auch diese historischen Abbilder oft nicht viel mit der Wirklichkeit gemein. Frühere Autoren, so Kristjánsson, beschrieben Island in Relation zu ihrer Heimat als einen grauenvollen Ort oder eine Art Dystopie. In eine ähnliche Richtung argumentiert Gert Kreutzer in seinem lesenswerten Vortrag zu deutschen Islandbildern vom Mittelalter bis heute. In seinem Schlusspunkt streift er kurz die Germanenideologien zur Zeit der NS-Diktatur mit ein paar Schlagworten wie „Island, Wiege germanischer Kultur“.

http://www.archives.is/skolavefur/mgerlach_wg.html

Werner Gerlach, zeitweilig deutscher Generalkonsul in Island
Quelle: http://www.archives.is/skolavefur/mgerlach_wg.html

An dieser Stelle soll daher etwas ausführlicher auf das Islandbild des früheren deutschen Generalkonsuls Dr. Werner Gerlach eingegangen werden, das sich ganz erheblich vom positivistischen heutigen und dem ideologisch verankerten Islandbild der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abhebt. In seinen privaten Aufzeichnungen, die Grundlage für Berichte an Himmler sowie das Auswärtige Amt bildeten bzw. bilden sollten, rechnete Gerlach enttäuscht mit den zeitgenössischen deutschen Islandbildern ab. Der Pathologe und ranghohe Offizier der SS Gerlach war bis kurz vor Übertritt in den diplomatischen Dienst, den ihm Himmler ermöglichte, Lehrstuhlinhaber an der Universität Jena gewesen. Seine Aufgaben in Island bestanden u.a. darin, die dort lebenden Auslandsdeutschen zu organisieren und gute Beziehungen zu isländischen Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kultur aufzubauen. Daneben beschäftigte er sich wissenschaftlich mit seinem eigenen Forschungsgebiet und unterstütze die Arbeiten SS-Forschungseinrichtung Ahnenerbe. Bei der britischen Okkupation Islands am 10. Mai 1940 wurde Gerlach vorübergehend interniert und ein Teil seiner Unterlagen vom britischen militärischen Nachrichtendienst erbeutet. Gerlachs Notizen und Berichte hat der isländischer Historiker Þór Whitehead im Rahmen seiner mehrbändigen Arbeit zu Islands Geschichte im Zweiten Weltkrieg sowie den Aktivitäten der SS in Island vor dem Krieg herangezogen. ((Þór Whitehead: Ísland í sídari heimsstyrjöld. 4 Bde., Reykjavík 1980–1999; Ders., Íslandsaevintýri Himmlers 1935–1937. Reykjavík 1988.)) Whiteheads Arbeiten, ergänzt durch meine eigenen Quellenstudien, bilden die Grundlage für die folgenden Ausführungen.

Gerlachs Niederschriften stehen in starkem Kontrast zu den verklärten Islandbildern im Deutschland der 1930er Jahre. Keinesfalls gehörte Gerlach zu den Island-Schwärmern seiner Zeit. Dennoch überrascht die Schärfe, mit der er die positiven Islandbilder seiner Landsleute beurteilte oder das Wesen der Isländer beschrieb. Insbesondere kritisierte er die Arbeit der Nordischen Gesellschaft, der auch Himmler, Alfred Rosenberg und Wahlter Darré angehörten. Den von Ernst Kuckelsberg verfassten und von der Nordischen Gesellschaft herausgegebenen Reisebericht Deutsche Nordlandreise: Ein Reisetagebuch ((Ernst Kuckelsberg: Deutsche Nordlandreise: Ein Reisetagebuch. Mit Zeichnungen v. Olaf Guldbransson u. zahlr. Aufn. v. Reiseteilnehmern. Berlin/Dresden 1937.)) hielt Gerlach für fürchterlich. Dieses Buch wäre ein typisches Beispiel dafür gewesen, wie in Deutschland ein falsches Islandbild erzeugt worden sei. Es strotzte seiner Meinung nach von deutscher Selbsterniedrigung und Überhöhung alles Isländischen.

Island als Ort der Kunst und Kultur verglich Gerlach mit kleineren süddeutschen Städten wie Nürnberg, Rothenburg und Frankfurt.  Auf dem Land sah er keine kulturelle Traditionen. Dies machte er am Fehlen alter bäuerlicher Möbel in den Stuben der isländischen Bauern fest. Vielleicht wurden in seiner süddeutschen Heimat alte Holzstühle von den Bauern von Generation zu Generation vererbt, in Island aber, wo er selbst Schwierigkeiten hatte, das Mobiliar des Konsulats zu vervollständigen und wo Holz ohnehin teuer war, dort vermisste solche Kleinode bäuerlicher Kultur. Er resümierte, der Kapitalismus hätte unter dem Banner des Fortschritts alles weggefegt. Überreste einer eigenständigen isländischen Kultur fänden sich nur noch in Museen. Über die kulturelle Wirkung der altisländischen Sagas auf die zeitgenössische Kultur äußerte er sich ebenfalls abfällig. Es gab ein großes Potenzial für die Isländer, aus der Jahrhunderte alten literarischen Tradition der Sagas für ihr Alltagsleben zu schöpfen. Doch sei nichts anderes dabei heraus gekommen als die Vorliebe für englische Krimis, amerikanische Gangsterfilme oder deutsch-jüdische Komödien. Für die zeitgenössische isländische Musik fand Gerlach nur herablassende Worte. Den isländischen Komponisten Jón Leifs verachtete er allein schon rassistisch motiviert wegen seiner Ehe mit der jüdischen Pianistin Annie Riethof.

Mit rassischen und medizinischen Erklärungsansätzen beurteilte Gerlach auch an anderer Stelle die Situation in Island. So wunderte er sich, wie 117.000 Einwohner, von denen er ein Drittel für degeneriert und physisch unterlegen hielt, eine unabhängige Nation bilden wollten. Denn wie sah er ihre alltägliche Routine? Sie würden ihre Energie nicht für sinnvolle Arbeit, sondern nur dafür verausgaben, nicht gänzlich zu Faulenzern zu werden. Was für die Deutschen, wie Schwimmen und Tennis, zweitrangig war, wäre in Island ein Tagewerk für sich gewesen. Dieses Verhalten sei offenbar ansteckend, denn selbst die in Island länger lebenden Deutschen hätten sich gleichsam dieses Verhalten angewöhnt. Als Resultat hätten sie, so Gerlach, fast alle eine Schraube locker gehabt.

Gerlachs Meinung war offenbar dadurch gefärbt, dass er sich während seiner Dienstzeit in Island, die überwiegend in Winterhalbjahr lag, großen Schwierigkeiten gegenüber sah, überhaupt Kontakt zur Bevölkerung aufzunehmen, zumindest wenn wir annehmen, dass er ein Frühaufsteher war. In den Wintermonaten mit ihren späteren Sonnenaufgängen mochten die Leute laut Gerlach nicht vor 10 Uhr am Morgen geweckt werden und insbesondere Frauen nicht vor 12 Uhr. Inwieweit Gerlach selbst zur Ruhe kam und nicht gänzlich übermüdet seinen Dienst verrichtete, ist eine andere Frage. Einige Isländer, die sich wohl für besonders witzige Spaßvögel hielten, trieben mit dem braunen Generalkonsul so mancherlei Schabernack. So klagte er, dass er regelmäßig des Nachts von Schwachköpfen und Betrunkenen geweckt worden wäre. Mitternachts und darüber hinaus hätten ihn wiederholt betrunkene Isländer angerufen, die sich nicht dazu bringen ließen, die nächtlichen Telefonate auf die Tageszeit zu verschieben.

Es ist nicht überliefert, ob Gerlach sehr unglücklich über seine plötzliche und erzwungene Abreise aus Island im Mai 1940 auf einem britischen Kriegsschiff war. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland wurde er zum kommissarischen Vertreter des Auswärtigen Amts beim Reichsprotektor in Böhmen und Mähren ernannt. Ab 1943 bis zum Ende der deutschen Besatzungszeit leitete der kulturpolitisch unerfahrene Gerlach das Kulturreferat an der deutschen Botschaft in Paris, wobei er sich für die kulturpolitische Arbeit nicht groß zu interessieren schien. ((Eckard Michels: Das deutsche Institut in Paris 1940–1944 – ein Beitrag zu den deutsch-französischen Kulturbeziehungen und zur auswärtigen Kulturpolitik des Dritten Reiches. Stuttgart 1993 (= Studien zur modernen Geschichte; 46), S. 115.)) Gerlachs Islandbilder lassen mehr Rückschlüsse auf sein eigenes Weltbild zu, als dass sie die damalige Realität im Kontext der politischen und wirtschaftlichen Lage in Island angemessen und ausgewogen wiedergeben. Aber so ist es auch mit den Islandbeschreibungen anderer Autoren. Sie sind oft ein kleines Selbstbildnis.