- 23.07.2020
- Kategorie Geschichte / Archäologie Politik / Gesellschaft
»Die deutsch-dänische Grenze ist die glücklichste, die Deutschland hat.« Freundschaft – nicht nur in Zeiten von Corona
Ein Kommentar von Prof. em. Dr. Bernd Henningsen
zum Editorial 2020 von Joachim Grage „Dänisch-deutsche Geschichtsvergessenheit“
und zum Gastbeitrag von Friis Arne Petersen
„Erinnerung und Politik: Ein Blick auf Geschichte und Kultur im deutsch-dänischen Austausch 2017–2020“
Der im Titel zitierte Satz stammt von dem in Westfalen geborenen Bundespräsidenten Gustav Heinemann, gesprochen 1974 beim Staatsbesuch der dänischen Königin Margrethe II. – 110 Jahre nach dem deutsch-preußisch-österreichisch-dänischen Krieg von 1864, knapp 55 Jahre nach den Volksabstimmungen von 1920, knapp 35 Jahre nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht am 9. April 1940 und knapp 20 Jahre nach den Bonn-Kopenhagener Erklärungen von 1955. Heinemann war 1970 das erste deutsche Staatsoberhaupt seit Wilhelm II., der das Königreich besuchte. Er war auch 1970 der erste deutsche Präsident gewesen, den die Norweger nach dem Krieg zu einem Staatsbesuch empfingen (empfangen wollten). Heinemann muss sich also mindestens der symbolpolitischen Bedeutung seines Auftritts nach mehr als 100 Jahren gepflegter Animositäten und Feindschaften bewusst gewesen sein. Ob der Westdeutsche – oder seine Beamten – ein vertieftes Wissen vom Alltagsglück an der Grenze hatten, darf aber wohl bezweifelt werden: Dänemark wurde erst 1973 Mitglied der Europäischen Gemeinschaft, dem Schengener Abkommen (dem gegenseitigen Verzicht auf Personenkontrollen an den Grenzen) traten die skandinavischen Länder 2001 bei; Zoll- und Passkontrollen gehörten bis dahin zum Alltag, die Autoschlangen in Krusau/Kruså und Pattburg/Padborg waren es ebenso, aber auch die »Gelegenheitsökonomie« war Grenzroutine – also der Schmuggel der kleinen Leute für den Eigenbedarf.
Die präsidiale Einschätzung aus dem vorigen wird auch in unserem Jahrhundert geteilt: Das Meinungsforschungsinstitut YouGov führte 2010 eine repräsentative Umfrage unter Deutschen nach den beliebtesten Nachbarn durch, für drei Viertel der Befragten nahmen die Dänen den Spitzenplatz bei den Sympathiewerten ein (die Schweizer landeten bei den Liebesbekundungen auf Platz zwei) – in Anbetracht des Hygge-Hypes der folgenden 10er Jahre darf man wohl annehmen, dass sich die Sympathiewerte noch gesteigert haben. Vieler Umfragen bedarf es nicht für die Feststellung, dass die deutsche Nachbarschaftssympathie nicht mit dem Wissen über Geschichte, Gesellschaft, Politik, Kultur und Wirtschaft Dänemarks korreliert, was auch umgekehrt gilt – dazu bedarf es nicht einmal der jahrzehntelangen Erfahrungen eines Skandinavistik-Professors …
Die dänische und die deutsche Regierung wollten das Nachbarschaftsglück und den offenkundigen Wissensbedarf apropos des 100-jährigen Jubiläums der Volksabstimmungen und der damit demokratisch legitimierten Neufestlegung der Grenze toppen – mit dem »Deutsch-Dänischen Kulturellen Freundschaftsjahr« 2020 (ein Schelm, wer dabei an die »deutsch-sowjetische Freundschaft« aus DDR-Zeiten denkt). Wohl aber ohne Ironie wird man nach den Inhalten der deutsch-dänischen Freundschaft fragen dürfen: Ist es ein besonderer Beleg für diese Freundschaft, wenn in München eine große Bertel-Thorvaldsen-Ausstellung gezeigt werden soll, wenn die Deutschland-Ausstellung des British Museum für Kopenhagen geklont wird, wenn die Botschaften zu Empfängen laden, das Berliner Ensemble sollte nach Kopenhagen, der Bundespräsident nach Dänemark und die Königin nach Deutschland kommen, die Bundesländer sich in ihren Eigenarten vorstellen (nicht in Dänemark, aber immerhin auf Dänisch)? Zwölf »Leuchtturmprojekte« und mehr als 100 Einzelveranstaltungen wurden in Dänemark und Deutschland aufs Programm gesetzt, von Ende 2019 bis Anfang 2021.
Ja, dieses sind Freundschaftsbeweise. Sie sind vor allem Belege für eine jahrhundertelange fruchtbare dänisch-deutsche Begegnungsgeschichte: Bertel Thorvaldsen z. B. war in Europa und in Deutschland ein hochgeschätzter Künstler, lange bevor er in Dänemark als der große nationale Bildhauer anerkannt wurde; in der europäischen Jazzgeschichte und -kultur hat Dänemark eine herausragende Rolle; Per Kirkeby ist in Berlin präsent; Ólafur Elíasson und viele weitere dänische Künstler*innen haben in Berlin ihr Atelier. »Unter demselben Himmel« hieß vor zwei Jahrzehnten eine Kopenhagener Malerei-Ausstellung: »Land und Stadt in der dänischen und deutschen Kunst 1800–1850«. Sie offenbarte die Verwandtschaft in den Motiven, in den Strukturen, den Kompositionen, den Farben – Grenzen spielten keine Rolle; Schnittpunkte waren Kopenhagen, Dresden und Rom, dazwischen liegen Berlin und Hamburg, sie war in Kanada konzipiert, zuvor in Deutschland gezeigt worden. Dieselben Gemeinsamkeiten kann man an der musikalischen Begegnungsgeschichte ablesen, von der literarischen ganz zu schweigen.
Das Bukett der dänisch-deutschen Kultur-Highlights verwelkte mit der Corona-Grenzschließung und den Kontakt- und Versammlungsverboten durch die dänische Regierung am 14. März und damit auch die Chance der Wissensvertiefung durch kulturelle Aktivitäten – obwohl noch kurz zuvor die WHO und die Virologen verlautet hatten, dass Grenzschließungen kein probates Mittel gegen die Ausbreitung der Pandemie sind, obwohl auch unter den Regierungen Einigkeit herrschte, die Grenzen offen zu lassen. Gleichwohl stellten alle europäischen Länder kurz danach wieder Grenzbarrieren auf, 2020 wird auf 2021 verschoben (wenn dann noch Geld da ist). Das Datum der nicht abgestimmten dänischen Grenzschließung vom 14. März und die Konsequenzen daraus werfen ein Licht auf die Freundschaftsbekundungen und auf die aktuellen kulturellen Bande – das betrifft also auch Schweden. Aus so gut wie allen Kommentaren konnte man Verwunderung bis Entsetzen herauslesen: Kopenhagen (und auch Berlin) verfügten über das alltägliche Leben in der jeweils fernen Provinz – ohne Rücksicht auf die Konsequenzen vor Ort, ohne die Erwägung (oder das Wissen?) über die symbolische Bedeutung von Daten und Ereignissen und entgegen der Experten Rat. In ähnlicher Weise war zuvor die Planung für das Freundschaftsjahr verlaufen, top down in Kopenhagen und Berlin (und in Kiel) – in ähnlicher Weise war im Zusammenhang mit der sogenannten Flüchtlingskrise verfahren worden.
Gar kein Zweifel – die Region ist in den letzten sieben Dezennien friedlicher, spannungsfreier geworden, politisch, sozial, kulturell, die wirtschaftlichen Zusammenhänge wurden enger (auch dank des europäischen Binnenmarkts!), die grenzüberschreitenden Kooperationen, wie auch die persönlichen Freundschaften sind gewachsen. Aber wie kann es sein, dass gravierende Entscheidungen entlang einer »glücklichen« Grenze nicht gemeinsam getroffen werden? Wie kann es sein, dass das auslösende Moment des Freundschaftsjahres – die Grenzabstimmung vor 100 Jahren – nicht als gemeinsames Datum begangen wird? Wo steht eine gemeinsame Veranstaltung der Grenzregionen auf dem Programm oder der Stadt Flensburg mit ihren dänischen Nachbargemeinden? Die deutschen Versuche nach gemeinsamer Planung blieben ergebnislos – das große nationale dänische Fest war in Sonderburg/Sønderborg und Düppel/Dybbøl, das deutsche war als regionales »Volksfest« für Flensburg geplant. Wäre es nicht eine Freundschaftsidee gewesen, dass die dänische Minderheit in Deutschland und die deutsche Minderheit in Dänemark ein gemeinsames Fest veranstalteten?
Freundschaft muss man (von unten) wollen, eine von oben verordnete Freundschaft kann nicht funktionieren. Der Verlauf der Planungen und die krisenbedingten Absagen verweisen auf mehr als nur auf symbolische Defizite. Die These sei erlaubt, dass es die Gemeinsamkeiten nicht gibt, und wenn es sie einmal gegeben hat, dann sind sie in den letzten 20 Jahren weniger geworden, was seine gewollten politischen Gründe hat (keine zweisprachigen Ortsschilder in Nordschleswig, solche aber in Südschleswig).
Man muss es schon als einen Treppenwitz in der deutsch-dänischen »Freundschaftsgeschichte« interpretieren, dass es allerdings eine gemeinsame Aktion gab/gibt: Mit Datum vom 31. März 2020, zwei Wochen nach der Grenzschließung, verkündeten das Auswärtige Amt, das zuständige Kieler Ministerium, das dänische Kulturministerium und die beiden Minderheitenorganisationen die Nominierung des »Deutsch-dänischen Minderheitenmodells als Immaterielles Kulturerbe der UNESCO«, entschieden wird darüber Ende 2021. Ob es der UNESCO-Kommission auffallen wird, dass die 65-jährige Erfolgsgeschichte des »Zusammenlebens im deutsch-dänischen Grenzland« bei Nominierung kollaboriert und am Beginn bereits von schweren Geburtsschmerzen und einem Geburtsfehler begleitet war? Der Widerstand gegen die Grundlagen dieser »Erfolgsgeschichte« war enorm: Eine Vereinbarung über die Garantie der Minderheitenrechte war einerseits der dänische Preis für die Zustimmung zur deutschen Mitgliedschaft in der NATO 1955, es war ein Fenster geöffnet, durch das man springen konnte; der Deal war gut gemeint, aber zweischneidig. Und auf der deutschen Seite andererseits gab es erhebliche Widerstände bis weit hinaus über das Datum der Unterzeichnung der Vereinbarungen (nicht allein ablesbar an den regelmäßigen Zweifeln an der Arbeit und der Gestaltungslegitimität der »dänischen« Partei im Kieler Parlament). Diese politische Gemengelage hatte Konsequenzen für die Abmachungen, und das ist der Geburtsfehler: Im März 1955 wurde nämlich keine gemeinsame Erklärung über die Minderheitenrechte unterzeichnet, geschweige denn an einem Ort, sondern – allerdings abgestimmt – zwei, eine dänische über die Rechte der deutschen Minderheit in Nordschleswig und eine deutsche über die Rechte der dänischen Minderheit in Südschleswig – die »Bonn-Kopenhagener-Erklärungen«, im Plural. Ist es nur eine symbolpolitische These, dass zwei nicht zusammenkommen können, wenn sie schon am Anfang uneins sind, und sei es nur aus protokollarischen Gründen?
Die Corona-Pandemie hat offenbart, dass die deutsch-dänische Freundschaft ein Elitenprojekt ist, das den Realitätstest in konkreten Situationen nicht besteht, Rhetorik und Alltagserfahrungen sind nicht im Gleichklang, das ist ein Vorhalt nicht allein an die dänische Seite, auch auf der deutschen gibt es den Doppelsprech. Was sich heute an der deutsch-dänischen Grenze abspielt, spricht allen Freundschaftsbekundungen Hohn – ja, ist Gegenstand medialen Gelächters in Europa und Amerika geworden, obgleich es eigentlich nichts zum Lachen gibt; die rührende deutsch-dänische Geschichte von Philemon und Baucis getrennt durch ein Grenzband ist ein Eye-Opener (s. im Blog-Beitrag von Elin Fredstedt). Corona hat zudem einen weiteren Widerspruch zwischen Rhetorik und Alltagserfahrung offenbart: Der schwedische Sonderweg in der Virus-Bekämpfung hat auch das dünne Eis der harmonischen Nordischen Zusammenarbeit brechen lassen – dass heute norwegische Soldaten an der Grenze zu Schweden stehen, dass die Öresund-Brücke nicht mehr verbindet, sondern trennt, hat der nordischen Freundschaft schwer geschadet. Der Vorsitzende des Nordischen Rates, der ehemalige dänische Minister Bertel Haarder summiert: »… die nordische Zusammenarbeit ist zerstört. Und es sind vor allem Dänemark, Norwegen und Finnland, die den Schaden angerichtet haben.«[1]
Ein brandaktueller, deutsch-dänischsprachiger Band über die Volksabstimmung von 1920 endet mit dem bemerkenswerten Absatz: »Die Re-Nationalisierung der dänischen Gesellschaft in den letzten anderthalb Jahrzehnten einerseits und eine ausgeprägte EU und multi-kulturell ausgerichtete deutsche Politik andererseits haben auf beiden Seiten der Grenze zu gewissen Selbstbezüglichkeiten geführt. Es ist daher nur zu begrüßen, dass das 100-Jahr-Jubiläum der Volksabstimmungen in Schleswig mit einem ‚Deutsch-Dänischen Freundschaftsjahr 2020‘ gemeinsam gefeiert wird.«[2] Es ist nicht nur dem Corona-Virus geschuldet, dass diese Erwartungen sich nicht erfüllt haben.
[1] https://politiken.dk/udland/art7857211/%C2%BBDer-er-pludselig-milit%C3%A6r-ved-gr%C3%A6nsen-til-Norge.-Det-er-utrolig-dramatisk%C2%AB [13.07.2020].
[2] Immo Droege, Broder Schwensen: 1920. Deutsch oder Dänisch? Flensburg in der Volksabstimmung. Flensburg 2020, S. 54.