Die Macht der Ordnung. Ein Buchprojekt zu textuellen Umformungen und paratextuellen Apparaten in spätmittelalterlichen Rechtsbuchhandschriften Nordeuropas

von NordicHistoryBlog

Ein Gastbeitrag von Lena Rohrbach. Die Geschichte des geschriebenen Rechts beginnt im nordeuropäischen Raum greifbar am Ende des 12. Jahrhunderts mit einzelnen Fragmenten von Rechtshandschriften. ((Darunter werden in diesem Kontext das dänische, schwedische und norwegische Königreich in ihren jeweiligen historischen Ausdehnungen sowie Island verstanden.)) Die ältesten umfassenden Rechtshandschriften datieren von der Mitte des 13. Jahrhunderts. Das Einsetzen der schriftlichen Überlieferung steht dabei zeitlich in enger Verbindung zu königlichen Revisionsbemühungen der älteren, regionalen Rechtsbücher, bei denen es sich nicht um verbindliche Gesetze, sondern vielmehr um lose Sammlungen vorhandener Rechtsregeln handelte. Ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts wurden die regionalen Rechtsbücher von königlich promulgierten Gesetzen mit reichsweiter Wirkung abgelöst. ((Dem norwegischen Landslov (1274), der isländischen Jónsbók (1281), ebenfalls promulgiert durch den norwegischen König Magnus Håkonsson, weil Island seit 1262 Teil des norwegischen Reichs war, sowie dem schwedischen Landslag König Magnus Erikssons (ca. 1350). Im Dänischen Reich gab es keine dementsprechende Reichsgesetzgebung, allerdings gibt es Indizien, dass das Jyske Lov, das 1241 von König Waldemar II. promulgiert wurde, als reichsweit geltendes Recht angelegt war und auch in der Rechtsausübung über die Provinz Jütland hinaus Einfluss hatte.)) Die Verschriftlichung des volkssprachlichen Rechts zu diesem Zeitpunkt ist auch als Reaktion auf und Auseinandersetzung mit seit der Mitte des 12. Jahrhunderts vorgenommenen Sammlungen des kanonischen Rechts zu verstehen.

Bereits die ältesten Handschriften zeigen, dass die Schreiber mit den Kulturtechniken der Scholastik, wie sie aus den Handschriften des gelehrten Rechts bekannt sind, vertraut waren und diese auf die volkssprachlichen Rechtsbücher übertrugen. Dies gilt gleichermaßen für das materielle Layout der Handschriften wie auch für das textuelle und paratextuelle Arrangement der Rechtsbücher: Inhaltsverzeichnisse, systematische und später auch alphabetische Register sowie Kurzfassungen und Synopsen. Dabei ist auffällig, dass die Handschriftentraditionen der vier Regionen markante Unterschiede in Hinblick auf Zeitpunkt und Auswahl der Übernahmen aufweisen.

Die textuellen Umformungen und paratextuellen Apparate fristen trotz teils breiter Überlieferung in der Forschung zu den nordeuropäischen Rechtsbüchern bisher ein stiefmütterliches Dasein; die wenigsten von ihnen liegen in edierter Form vor. Dieses Desiderat greife ich in meinem aktuellen Forschungsprojekt auf und analysiere die Texttraditionen der vier Regionen bis ca. 1550 in Hinblick auf Arrangements, kodikologische Einbindung sowie sozialen und historischen Kontext der Umformungen und Paratexte. Mit dieser zeitlichen Grenzsetzung wird die Handschriftentradition somit einige Jahre über die Reformation der nordeuropäischen Länder und das Ende der Kalmarer Union hinaus in den Blick genommen. Die zeitliche Grenzsetzung ist auch aus medienhistorischen Gründen gewählt, da das Jyske Lov erstmals 1504 im Druck erscheint und somit wechselseitige Einflüsse von Druckkonventionen und Handschriftenlayout aufgezeigt werden können.

Klassische Studien zu pragmatischer Schriftlichkeit für den kontinentalen Raum ebenso wie jüngere skandinavische Studien gehen allgemein davon aus, dass die Einführung und Nutzung der Schrift und elaborierter Kulturtechniken in administrativen Zusammenhängen primär praktischen Erwägungen folgte. Diese Grundannahme wird in meinem Forschungsprojekt in detaillierten Text- und Kontextanalysen hinterfragt. In der Forschung zu den mittelalterlichen nordeuropäischen Rechtsbüchern wird weiterhin allgemein davon ausgegangen, dass diese von Beginn an in der Rechtspraxis Verwendung fanden und autoritativen Status als Gesetz hatten. Auch diese Prämisse wird im vorliegenden Buchprojekt grundlegend in Frage gestellt. Die Handschriftentradition zeigt, dass die Neuformen zu einem je spezifischen Zeitpunkt in den vier Ländern einsetzen, der mit soziopolitischen Veränderungen und/oder mit Änderungen der Funktion der Schrift in der Organisation der Gesellschaft korreliert. Dabei schließt das Buchprojekt an neuere Studien zu pragmatischer Schriftlichkeit im europäischen Mittelalter an, die performative Dimensionen von Verschriftung und Verschriftlichung im administrativen Kontext in den Blick gerückt haben.

Linköping Stadsbiblioteket, Stiftsbiblioteket, J 73, f. 110r, ca. 1503–1506. Abgebildet mit freundlicher Genehmigung von Linköping Stadsbiblioteket

Linköping Stadsbiblioteket, Stiftsbiblioteket, J 73, f. 110r, ca. 1503–1506.
Abgebildet mit freundlicher Genehmigung von Linköping Stadsbiblioteket.

Diese Handschrift enthält als wohl einziger Textzeuge ein gemeinsames alphabetisches Register in lateinischer Sprache für die schwedischen Rechtsbücher Magnus Erikssons Landslag und Kristoffers Landslag. Alphabetische Register für eines der beiden Rechtsbücher finden sich, anders als im norwegischen und isländischen Material, in vielen schwedischen Handschriften.

AM 16 8vo, ff. 17v/18r, nach 1488. Abgebildet mit freundlicher Genehmigung von Den Arnamagnænske Samling, Kopenhagen.

AM 16 8vo, ff. 17v/18r, nach 1488. Abgebildet mit freundlicher Genehmigung von
Den Arnamagnænske Samling, Kopenhagen.

Diese Handschrift des dänischen Jyske Lov ist im Umfeld des dänischen Königshauses entstanden. Die abgebildete Doppelseite zeigt ein Inhaltsverzeichnis und ein systematisches Register. AM 16 8vo ist eine von drei Handschriften des Jyske Lov, die eine aus dem gelehrten Recht bekannte Glossierung im Rahmenlayout aufweist. ((Zu den dänischen Paratexten siehe Lena Rohrbach: „Pragmatik in Szene gesetzt. Mediale Dimensionen spätmittelalterlicher Handschriften des Jyske Lov“. In: Britta Olrik Frederiksen/Jonna Louis-Jensen (Hg.): Opuscula XIII. (Bibliotheca Arnamagnæna 47). Kopenhagen 2010, 119–172. ))

Eine Reihe von mittelalterlichen nordeuropäischen Rechtshandschriften ist online digitalisiert verfügbar. Einige Beispiele:

  • Holm C 37, ca. 1276, die älteste Handschrift des dänischen Jyske Lov, die bereits nummerierte Inhaltsverzeichnisse und Kapitelüberschriften aufweist.
    (http://www.kb.dk/permalink/2006/manus/41/dan/1/)
  • Das Arnamagnäanische Institut in Reykjavík (Stofnun Árna Magnússonar í íslenskum fræðum) hat mehrere prominente isländische Handschriften online digitalisiert zur Verfügung gestellt, darunter AM 334 fol., Staðarhólsbók, ca. 1260–1280, eine der beiden erhaltenen Handschriften der Grágás, der Sammlung des Rechts des isländischen Freistaats, und daneben der einzige Textzeuge der Járnsíða, dem 1271 von König Magnus Håkonsson erlassenen Gesetz für Island, das 1281 von der Jónsbók abgelöst wurde. Als eine von ganz wenigen mittelalterlichen Rechtshandschriften Islands enthält die Staðarhólsbók nummerierte Inhaltsverzeichnisse und Kapitelüberschriften. ((Zu dieser Handschrift siehe auch Lena Rohrbach: „Matrix of the Law. A Material Study of Staðarhólsbók“. In: Lena Rohrbach (Hg.): The Power of the Book. Medial Approaches to Medieval Nordic Legal Manuscripts. (Berliner Beiträge zur Skandinavistik 19). Berlin 2014 (i.Dr.).)) Weitere Rechtshandschriften auf dieser Seite sind GKS 3270 4to, ca. 1350, mit einem unnummerierten Inhaltsverzeichnis ausgestattet, AM 350 fol., Skarðsbók, 1363, die als eine der ältesten isländischen Rechtshandschriften Kurzfassungen verschiedener Rechtsbücher enthält, ((Zu dieser Handschrift siehe auch Lena Rohrbach: „Repositioning Jónsbók. Rearrangements of the Law in Fourteenth Century Iceland“. In: Steinar Imsen (Hg.): Legislation and State Formation. Norway and Its Neighbours in the Middle Ages. (Norgesveldet. Occasional Papers 4). Trondheim 2013, 183–209.)) sowie AM 147 4to, Heynesbók, 16. Jahrhundert, die wie einige andere isländische Rechtshandschriften aus dieser Zeit den Rechtstext in der Form zahlreicher Randzeichnungen illustriert.
    (http://www.am.hi.is:8087/)
  • GKS 1154 fol., Codex Hardenbergianus, ca. 1340, die einzige Handschrift des norwegischen Landslov mit prächtigen, historisierten Illuminationen.
    (http://www.kb.dk/permalink/2006/manus/3/dan/1+verso/)

Lena Rohrbach ist Juniorprofessorin für skandinavistische Mediävistik am Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin. In ihrer Forschung widmet sie sich der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rechtshandschriftenüberlieferung Nordeuropas, der isländischen Sagaliteratur (v.a. den sogenannten zeitgenössischen Sagas), und der Geschichte der isländischen Schriftkultur. Methodisch liegen ihre Schwerpunkte in medientheoretischen und literarisch-anthropologischen Fragestellungen.