- 08.03.2014
- Kategorie Geschichte / Archäologie Digital Humanities
Digitalisierungsstrategien für das kulturelle Erbe in Norwegen | Teil 3: Die norwegische Nationalbibliothek als zentraler Akteur
Nach Teil 1 (zu grundsätzlichen Aspekten) und 2 (zum Archivwesen) geht es nun im dritten Part dieser Artikelserie um die norwegische Nationalbibliothek als zentralem Akteur. ((Während die ersten beiden Teile mit als Grundlage für die Ausarbeitung eines Aufsatzes zu diesem Thema dienten, ist es bei diesem Text andersherum: Er wurde als Teil des ausführlicheren Aufsatzes verfasst und der entsprechende Teil dann hier für den Blogeintrag übernommen. Näheres zu dem Aufsatz nach dessen Veröffentlichung.)) Dieser weist die nationale Digitalisierungsstrategie als führender Forschungsbibliothek des Landes die zentrale Rolle für den Aufbau der digitalen Bibliothekssammlungen zu. „Mit Verankerung im Pflichtexemplarsrecht und im Urheberrecht ist es die Vision der Nationalbibliothek, das Gedächtnis der Nation und ein multimediales Kompetenzzentrum auf der Höhe künftiger Nachfrage zu sein. Zwei ihrer vier Hauptziele sind ‚eine von Europas spannendsten und modernsten Nationalbibliotheken zu sein‘ und ‚der Kern der norwegischen digitalen Bibliothek‘ zu sein.“ ((Stortingsmelding 24 (2008–2009): Nasjonal strategi for digital bevaring og formidling av kulturarv, S. 45. [„Med forankring i pliktavleveringsloven og åndsverkloven har Nasjonalbiblioteket som sin visjon å være nasjonens hukommelse og et multimedialt kompetansesenter i forkant av fremtidens etterspørsel. Som to av fire hovedmål har de ‚å være et av Europas mest spennende og moderne nasjonalbibliotek‘ og ‚å være kjernen i norsk digitalt bibliotek‘.“])) Zwar wurde das Pflichtexemplarsrecht erst 1989 eingeführt, die Digitalisierungspläne im Rahmen der 2009 lancierten Webpräsenz Bokhylla [Bücherregal] reichen aber zeitlich deutlich weiter. Bis 2017 sollen alle in Norwegen zwischen den Jahren 1900 und 2000 erschienenen Bücher gratis im Internet zugänglich sein – allerdings nur von norwegischen IP-Adressen aus. Alle Bücher, für die das Urheberrecht abgelaufen ist, dürfen heruntergeladen werden, die restlichen kann man nur online lesen. Da das 1989 eingeführte norwegische Pflichtexemplarsrecht zudem medienneutral formuliert ist, finden auch Medien wie Ton- oder Bildaufnahmen Eingang in die Norwegische digitale Bibliothek. ((Kaja Korsvold: „250.000 bøker blir tilgjengelige i Norges digitale bibliotek.“ In: Aftenposten Digital 28.8.2012. (zuletzt abgerufen am 6.3.2014).)) Die Digitalisierung der gesamten Bestände der Nationalbibliothek wird darüber hinaus ebenfalls in einem Zeitrahmen von 25 bis 30 Jahren angestrebt. „50 Kilometer an Kulturerbe sollen digitalisiert werden“ überschrieb der norwegische Rundfunk einen Internetbericht über das Vorhaben, für das am zweiten Standort der Nationalbibliothek im nordnorwegischen Mo i Rana eigens ein Digitalisierungsgebäude mit neuester Technik gebaut wurde.
Die Nationalbibliothek folgt in ihrer 2006 begonnenen Digitalisierungspolitik den wichtigsten Empfehlungen, welche als Minimalanforderungen für digitalisiertes Kulturerbe von einer Expertengruppe ausgearbeitet wurden: Lokalisierbarkeit der digitalen Bestände, Qualitätsstandards für die Erstellung digitaler Materialien, umfassende Beschreibung durch Metadaten, Sicherung der Langzeitarchivierung sowie angemessene Präsentation. ((Åpen og samordnet tilgang til kulturarven. Anbefalinger for en vellykket tilstedeværelse i den digitale kulturelle verden. Rapport. [Offener und geordneter Zugang zum Kulturerbe. Empfehlungen für eine geglückte Präsenz in der digitalen kulturellen Welt. Bericht.] Oslo 2011 (= ABM-skrift; 66), S. 52–61)) Zudem wurde eine eigene Digitalisierungsstrategie für das Bibliothekswesen ausgearbeitet, in der die Zugänglichkeit des kulturellen Erbes ebenfalls hervorgehoben wird: „Der Einsatz der Nationalbibliothek auf dem digitalen Gebiet wird auf Sicht dazu führen können, dass der gewöhnliche Nutzer auf seinem eigenen PC direkten Zugang zu großen Teilen des norwegischen Kulturerbes haben kann.“ ((Stortingsmelding 23 (2008–2009): Bibliotek. Kunnskapsallmenning, møtestad og kulturarena i ei digital tid. Oslo 2009, S. 53. Im Netz einzusehen unter http://www.regjeringen.no/nn/dep/kud/dokument/proposisjonar-og-meldingar/stortingsmeldingar/2008-2009/stmeld-nr-23-2008-2009-.html?id=555516 (zuletzt abgerufen am 6.3.2014) [„Nasjonalbibliotekets satsingar på det digitale området vil på sikt kunne føre til at den vanlege brukaren kan ha direkte tilgjenge på sin eigen PC til store delar av den norske kulturarven.“].)) In einem eigenen Strategiepapier stellt sich die Nationalbibliothek als diejenige Einrichtung vor, die in Norwegen Richtung und Tempo für kulturelle Digitalisierungsvorhaben vorgibt, welche landesweite Standards etabliert und im Mittelpunkt eines ganzen Netzwerkes von Kooperationspartnern steht. Norwegische Bücher und Medien aller Art seit dem Mittelalter sollen nach und nach frei zugänglich werden und die Langzeitarchivierungsstrategie wird sehr ambitioniert mit einer 1000jährigen Perspektive versehen. Das Selbstbewusstsein, hier an der Spitze der Entwicklung zu stehen, ist sehr ausgeprägt: „Some European countries have also started digitizing parts of their national cultural treasures, but so far no other national library has plans to digitize their entire holdings. We are thus the first National Library in Europe to take on this huge challenge, not only for the preservation of materials for posterity, but also to make as much content as possible available on the web.“ ((Jingru Høivik: „Mobile Digital Library in The National Library of Norway.“ In: Library Hi Tech News 28 (2011:2), S. 1–8, hier: S. 1.)) Wie weit die Ausweitung von Nutzungsmöglichkeiten der digitalen Sammlungen bereits gedacht wird, zeigt die recht frühe Orientierung auf die Nutzung von mobilen Endgeräten wie Smartphones und die Entwicklung einer mobilen Version der Webpräsenz für die digitalen Sammlungen. ((Ebd., S. 3–8.)) Darüber hinaus wird an der Nationalbibliothek auch Forschung betrieben, von der man für weitere Schritte bei der Bewahrung digitaler Materialien zu profitieren hofft, beispielsweise ein Projekt zur Archivierung von Meldungen auf dem Kurznachrichtendienst Twitter: „How can institutions like the National Library of Norway preserve new media content like Twitter for future research and documentation?“ lautet hier das Erkenntnisinteresse. Der Autor verweist ausdrücklich auf die Aufgabe der Nationalbibliothek zur Bewahrung des kulturellen Erbes, zu welchem letztlich in der digitalen Welt auch Nachrichten auf Twitter gehören: „Twitter is a relevant part of our culture, and thus should be regarded cultural heritage. Preserved tweets might provide an insight into our culture for future generations.“ ((Yngvil Beyer: „Using DiscoverText for Large Scale Twitter Harvesting.“ In: Microform & Digitization Review 41 (2012:3–4), S. 121–125.))
Die zentrale Stellung der Nationalbibliothek wurde weiter gestärkt, als der wichtigste Konkurrent (auch um die öffentlichen Gelder), das staatliche Zentrum für Archive, Bibliotheken und Museen [ABM-utvikling] 2010 aufgelöst und Teile seiner Aufgaben an die Nationalbibliothek sowie an den Norwegischen Kulturrat übertragen wurden. Zudem machten sich auch kritische Stimmen bemerkbar, die einen Mangel an kritischer Diskussion über das Vorgehen namentlich der Direktorin der Nationalbibliothek Vigids Moe Skarstein beklagen und problematisieren, dass gewissermaßen durch die Hintertür eine zu wenig hinterfragte kulturelle Deutungshoheit etabliert worden sei. ((Vgl. etwa Marianne Takle: Det nasjonale i Nasjonalbiblioteket. Oslo 2009.)) Es würden hohe Summen für die umfassende Digitalisierung ausgegeben, ohne nach möglichen Nutzungsszenarios zu fragen und ohne die Interessen der Leserinnen und Leser einzubeziehen. Zudem wurde die Forderung laut, Artefakte aus allen Bereichen des kulturellen Erbes einer gemeinsamen Auswahl und Prioritätensetzung zu unterziehen. ((Tord Høivik: „Den digitale kulturarven: skal digitaliseringen styres av tilbud eller etterspørsel?“ In: Bibliotekforum 32 (2007:7), S. 10–11, hier: S. 10.))
Als Fazit der Artikelserie kann man festhalten: Norwegen ist ganz klar Vorreiterland auf dem Gebiet der Digitalisierung von kulturellem Erbe. Besonders bemerkenswert sind dabei Tempo und Umfang der Maßnahmen. Dies ruft wie gesehen auch Kritiker auf den Plan: Autoren und Verlage haben Bücher aus dem digitalen Bücherregal der Nationalbibliothek zurückgezogen (aus Angst vor Gewinneinbußen). Zudem ist Geschwindigkeit bei der sorgfältigen Aufbereitung von historischen Materialien für deren Digitalisierung eben nicht Trumpf. In Norwegen sind die zentralen Akteure allerdings von jeher in einer starken Position, und Regierung sowie Parlament haben im Rahmen der Digitalisierungsstrategien entschieden, diese weiter zu stärken und ihnen die notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen – und nicht etwa externen Dienstleistern aus der freien Wirtschaft. Die Institutionen selbst wiederum haben aus ihrem Auftrag weit mehr gemacht, als ihnen der Staat aufgetragen hat. Insbesondere die Nationalbibliothek hat von sich aus weitere Mittel und Personalkapazitäten für die Digitalisierungsvorhaben reallokiert. Sie nutzt ihre Vorhaben auf dem digitalen Feld für eine weitreichende Imagekampagne, die neben der eigenen Institution auch dem gesamten Land zu einer Reputation als innovative, progressive Nation gereichen soll. Somit sind die Digitalisierungsstrategien für das kulturelle Erbe auch Werbung im Ausland und ein neues Element, das sich aber in eine bestehende Tradition einreiht: Norwegen als Vorbildland, welches sich für die guten Dinge einsetzt und damit der Welt ein Beispiel gibt. Dies ist auf den Gebieten der Wohlfahrtsstaatspolitik ebenso wie der Entwicklungspolitik bereits ein etabliertes Muster. Fortschrittlichkeit wird durch die Offenheit für neue Technologien signalisiert, die für gesellschaftlich wertvolle Zwecke eingesetzt wird. Die kritischen Stimmen sind zwar da, aber sie sind nicht laut und sie sind wenige – in einem Land mit einer stärker ausgeprägten Konsens- statt Konfliktkultur.