Eine Fiktion, die mit der Wirklichkeit nicht mithalten kann. Die vierte Staffel von Borgen möchte viel und schafft wenig – außer Kitsch.

von NORDfor

von Espen Børdahl

Die dänische Polit-Serie Borgen stellt einen der größten internationalen Erfolge der skandinavischen Fernsehgeschichte dar. Die ersten drei Staffeln wurden zwischen 2010 und 2013 vom dänischen Fernsehen (DR1) produziert und ausgestrahlt und daraufhin in 70 Länder verkauft. Oft wird Borgen in einem Atemzug mit Klassikern der Gattung wie etwa The West Wing (NBC, 1999–2006) und House of Cards (Netflix, 2013–2018) genannt. Die nach fast zehnjähriger Pause erschienene vierte Staffel (2022), jetzt mit dem Titel Borgen – Riget, Magten og Æren, im Deutschen Borgen – Macht und Ehre, erinnert jedoch in erster Linie an eines: dass es auch Fernsehen zum Vergessen gibt.

Zu Beginn der vierten Staffel von Borgen steht die Protagonistin Birgitte Nyborg (Sidse Babett Knudsen) vor einer ebenso dringenden wie heiklen Aufgabe: In ihrer Funktion als Außenministerin einer Mitte-links-Koalitionsregierung muss sie zu einem spektakulären Ölfund auf Grönland Stellung nehmen. Ihre Rolle ist brisant, denn einerseits möchten die Grönländer den erst durch die kommerzielle Verwertung des schwarzen Goldes entstehenden finanziellen Spielraum nutzen, um ihre politische Unabhängigkeit von der einstigen Kolonialmacht Dänemark voranzutreiben. Andererseits liegt die Außen- und Sicherheitspolitik der größten Insel der Erde trotz der Selbständigkeitsreformen der letzten Jahrzehnte weiterhin im Zuständigkeitsbereich der dänischen Regierung. Diese erhebt eigene Ansprüche, die sie durch ihre Verhandlungsmacht durchsetzen will, notfalls auch gegen den Willen der indigenen Bevölkerung – nicht zuletzt angesichts der millionenschweren dänischen Subventionen an Grönland, der eigenen strukturellen Probleme im Hinblick auf die Finanzierung des dänischen Wohlfahrtstaates, der Sicherheitsinteressen als Bündnispartner der USA und NATO und insbesondere angesichts der drohenden Umwelt- und Klimakrise. Schnell gerät Nyborg ins Kreuzfeuer unterschiedlichster, obendrein ständig wechselnder Interessen, auf die sie mit der größtmöglichen Flexibilität reagiert, vor allem zur Sicherung der eigenen politischen Macht. Doch gerade damit begibt sie sich auf jenen politischen Schlingerkurs, der zu den wichtigsten Ursachen der weitverbreiteten Politikverdrossenheit in der dänischen Bevölkerung zählt und dessen Gegenbild sie in den ersten drei Staffeln verkörpern sollte, mit Volksnähe und Bodenständigkeit.

»The Fall of Public Woman«

So wird eines der Hauptthemen von Borgen aufgegriffen, das die Zuschauer bereits aus den früheren Staffeln kennen, nämlich die Konsequenzen der eigenen Macht für jene Frauen, die sich in der politischen Arena verwirklichen und Geltung verschaffen wollen. In einem parallelen Erzählstrang wird diese Problematik neben Nyborg auch anhand der zweiten zentralen Frauenfigur der Serie verhandelt, Katrine Fønsmark (Birgitte Hjort Sørensen), die inzwischen als Nachrichtenchefin im Fernsehen den großen Karrieresprung geschafft hat und Vorgesetzte ihres ehemaligen Mentors Torben Friis (Søren Malling) geworden ist. Nyborg und Fønsmark zahlen für ihr politisches und berufliches Durchsetzungsvermögen auf höchster Ebene, sei es in der Regierung oder im Medienbetrieb, einen hohen Preis: Ihr Erfolg geht erst mit dem Verzicht auf Zeit mit der Familie einher, später eventuell auch mit dem Verlust des Partners und sogar einer Entfremdung von den Kindern –, für die beiden Frauenfiguren auch deshalb schmerzhaft, weil die fehlende Harmonie im Privaten ihnen aufgrund der überlieferten Rollenmodelle weiterhin stärker als ihren männlichen Kollegen zusetzt. Allerdings steckt der Konflikt, den es zu bewältigen gilt, noch tiefer, denn zu dem Branding  weiblicher Selbstdarstellungspraxis in Borgen gehört von Anfang an, insbesondere bei Nyborg, die Betonung feminin konnotierter Empathie und Menschlichkeit einerseits, sowie die Abschwächung maskulin konnotierter Wettkampforientierung und Härte andererseits. Hierbei handelt es sich jedoch um ein Paradox, denn die Vorstellung, dass sich das Unbehagen des Machtspiels schlicht und einfach durch einen Geschlechtertausch der Mitspielenden abschaffen ließe, entlarvt sich schnell als haltloses Heilsversprechen.

Selfies statt Argumente

Ganz im Gegenteil muss Nyborg nämlich einen Pakt mit dem Teufel schließen, um ihre Beliebtheitswerte zu retten, die Grundlage ihrer Macht: Sie bindet ihren einstigen Gegenspieler Michael Laugesen (Peter Mygind), ehemaliger Machtpolitiker der Sozialdemokraten und durch und durch skrupelloser Chefredakteur des Boulevardblattes Ekspres, als Verbündeten für eine neue Medienstrategie auf Facebook und Instagram ein. Während die traditionellen Medien in Print und Fernsehen an Bedeutung verloren haben, sind es fortan vor allem die sozialen Medien, die als Plattformen des Verkaufs politischer Botschaften dienen sollen. Wie schon der Fürst im vordemokratischen Zeitalter bemüht war, seinen Machtanspruch mit dem eigenen Konterfei und den zugehörigen Insignien auf Gemälden, Statuen und Münzen zu untermauern, so verfolgen auch Nyborg und ihre sozialdemokratische Rivalin in der Regierung, die Ministerpräsidentin Signe Kragh (Johanne Louise Schmidt), eine Strategie der Machtrepräsentation ohne Argumente im entsprechenden Medium ihrer Zeit: mit dem gelungenen und genau zum richtigen Zeitpunkt geposteten Selfie. 

Eine Fiktion, die mit der Wirklichkeit nicht mithalten kann

Aber gerade in dieser schablonenhaften Darstellung einer sich verändernden Struktur der politischen Öffentlichkeit offenbart sich eine der Hauptschwächen der Produktion, die sie freilich mit vielen anderen Polit-Serien der letzten Jahre teilt, auch mit dem Flaggschiff House of Cards: Die von den Drehbuchautoren um Serienmacher Adam Price hervorgebrachte Fiktion kann mit der Wirklichkeit nicht wirklich mithalten. Die Schilderung der Medienlandschaft in Borgen ist nur ein blasses Abbild von Donald J. Trumps charismatischer Herrschaft über Twitter; die Politisierung des Selfies wurde weitaus ikonischer von der ehemaligen dänischen Ministerpräsidentin Helle Thorning Schmidt (»Gucci-Helle«) vorangetrieben, die sich bereits 2013 zusammen mit Barack Obama und David Cameron auf Nelson Mandelas Beerdigung entsprechend inszenierte. Das politische Theater, das sich vor allem in den USA in den Jahren der Präsidentschaft Trumps (man erinnere sich auch an sein Angebot von 2019, Grönland zu kaufen), aber auch im krisenhaften Europa der letzten Jahre entfaltet hat, ist derber, diabolischer, bedrohlicher, sensationeller, widersprüchlicher, unwahrscheinlicher und vor allem interessanter als all das, was sich in der vierten Staffel von Borgen an Handlung ereignet. Das Einstreuen dänischer Exotik mit ein bisschen Hygge hier (kein Essen ohne Kerzen), ein bisschen Danish Design da kann nicht vertuschen, dass wir es mit einem schwachen Drehbuch zu tun haben.

»Tell, don’t show«

Die Banalität der Erzähltechnik von Borgen macht sich vor allem auch dadurch bemerkbar, dass jeder Baustein der leicht durchschaubaren Handlung in überzeichneter Form präsentiert wird. Price kehrt die alte poetologische Binsenweisheit »Show, don’t tell« um, sodass auch wirklich der trägste Zuschauer die überdeutlich formulierte Pointe einer jeden Szene mitnehmen kann. So ist es beispielsweise in der klischeehaften Schilderung der Grönländer nicht genug, dass diese in Borgen unpünktlich zu Verabredungen kommen, sich über den Tisch ziehen lassen und ihr Land für ’n Appel und ’n Ei abgeben, Drogen- und Alkoholprobleme haben, arbeits- und identitätslos sind und sich umbringen. Nein, sie müssen letztlich auch noch sagen, dass sie keine Zukunft haben. Wenn wir es mit einer morbiden Komödie zu tun hätten, für die Price ja mit der Serie Ragnarok (Netflix, 2020) durchaus Talent gezeigt hat, könnte man dieses Vorgehen vielleicht noch irgendwie verteidigen; für ein realistisches Erzählverfahren wie in Borgen angestrebt ist es jedoch nur unerträglich. Auch die Figurendarstellung verfällt bisweilen ins unbeabsichtigt Parodische, zum Beispiel in der Schilderung von Nyborgs politischem Ziehvater Bent Sejrø (Lars Knutzon). Er ist gutmütig, intellektuell, weise, liberal und warmherzig. Muss er bei all seiner Güte und als dänische Kreuzung von Weihnachtsmann und Gandalf auch noch in seinem dänischen Landhaus Blumen züchten? Kein Kitsch scheint Price zu ordinär, um ihn nicht zu bemühen.

Der Kitsch ist Programm

Womit wir womöglich beim Kernproblem der Produktion angelangt sind. Borgen möchte, wie andere Polit-Serien auch, hinter die Kulissen blicken und das Spiel der Politik sezieren. Diese Absicht wird damit unterstrichen, dass jeder Folge ein bestimmtes Motto vorangestellt wird, in dem die berühmtesten Theoretiker der politischen Philosophie zitiert werden, von Niccolò Machiavelli bis Sun Tzu. Die Botschaft dieser Mottos ist genau jene rationale Durchleuchtung des oberflächlichen Spektakels, um so die zugrundeliegenden Machtinteressen ans Tageslicht zu bringen. Allerdings ist die plakative Art und Weise, wie solche Zitate über das Wesen der Macht herausposaunt werden, schon längst selbst eine Spielart des Kitsches, die mehr Gemeinsamkeiten mit Instapoetry als mit politischer Philosophie aufbringen kann. Mehr noch, auch die Serienmacher sind nicht in der Lage, die Rationalität der Politik, die diesen Mottos innewohnt, konsequent zu Ende zu denken und für die eigene Darstellung in Borgen nutzbar zu machen. Stattdessen bleiben sie grundsätzlich einem seichten Narrativ verbunden, gemäß dem Nyborg und ihre Mitstreiterinnen auf ihre nicht zu verdrängende Menschlichkeit qua Geschlecht zurückgeworfen werden, und zwar nicht als Strategie, sondern als Substanz. Das ist im Jahr 2022 angesichts der Vielfalt starker weiblicher Führungsfiguren nicht nur im gesamten politischen Spektrum Dänemarks, sondern auch sonst auf der Welt eine nicht mehr zeitgemäße Anthropologie. Ob Borgen gut altern wird? Wohl kaum. Diese Serie ist jetzt schon altbacken.

Espen Børdahl ist Lektor für Norwegisch am Institut für Skandinavistik der J. W. Goethe-Universität Frankfurt am Main