Individuelle und kollektive Erinnerung

von Ainur Elmgren

„Individuen haben Erinnerungen, Kollektive jedoch nicht. Erinnerungen als kollektive Phänomene sind Diskurse, die auf soziale Arbeit und soziale Verhandlungsprozesse bauen.” ((Pakier & Stråth 2010))

Nordische Erinnerungsorte - Ausstellung von Peter Stadius, Norbert Götz und Ainur Elmgren im Finnischen Parlament in Helsinki
Nordische Erinnerungsorte - Platz: Finnisches Parlament, Helsinki

Diese Zeilen machen nachdenklich. Seit mehr als zehn Jahren studiere und erforsche ich Geschichtsbewusstsein und Vergangenheitsbewältigung in verschiedenen Zusammenhängen.  Warum ist es notwendig, zwischen individueller und kollektiver Erinnerung zu unterscheiden? Vielleicht ist meine Frage falsch gestellt. Vielmehr macht mir zu denken, ob es überhaupt möglich ist, zwischen den beiden Begriffen zu unterscheiden.

Der Kontext zählt. Die Erinnerungen des Opfers sind oft die einzige Möglichkeit, das menschliche Leiden vergangener Zeiten zu erfassen. Sie sind Zeugenaussagen, die in der Gegenwart das Vergangene lebendig machen. Das heißt aber nicht, sie seien unbeeinflussbar, oder würden nicht sozial verhandelt. Werte und Normen der Gegenwart haben beispielsweise Menschen beeinflusst, nicht von Erfahrungen sexueller Gewalt zu sprechen ((Alexijewitsch 2004; siehe auch The Invisible War von der Produzentin Amy Ziering.))

Obwohl der Grund der Differenzierung zwischen individuelle und kollektive Erinnerungen eine Suche nach kritischer Distanz ist, frage ich mich auch, ob diese Differenzierung nicht einen künstlichen Abstand schafft. Viele Studien stellen die Zuverlässigkeit von Augenzeugen sogar über kürzere Zeiträume in Frage. ((Engelhardt 1999)) Die Nützlichkeit individueller Erinnerungen in der Forschung findet sich anderswo: Menschen können kollektive Erinnerungsbräuche für private Zwecke verwerten, und die privaten Erinnerungen sind an kollektive Erfahrungen gebunden – wenn sie durch die Sprache, die sich unvermeidlich auf soziale Verhandlung basiert, kommuniziert werden.

Reinhart Koselleck verteidigte das Recht des Individuums auf seine privatenErinnerungen, frei von „Kollektivierung” aller Art. ((Meier 2007)) Vielleicht spreche ich aus einer privilegierten Stellung und unterschätze die Not, aus der das Ideal einer autonomen Zone der persönlichen Erfahrung stammt. Aber bei meiner Untersuchung politischer Akteure und deren Geschichtsbewusstsein muss ich auch die Vorstellung der individuellen Erinnerung kritisch betrachten.


Literatur:

Alexijewitsch, Swetlana: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Berliner Taschenbuchverlag, Berlin 2004

Engelhardt, Laura: “The Problem with Eyewitness Testimony. Commentary on a talk by George Fisher and Barbara Tversky”, in Vol. 1:1 Stanford Journal of Legal Studies 25, 1999

Meier, C.: „Gedenkrede auf Reinhart Koselleck“, in Reinhart Koselleck 1932-2006: Reden zur Gedenfeier am 24. Mai 2006. Bielefelder Universitätsgespräche und Vorträge 9, Bielefeld 2007

Pakier, Malgorzata & Bo Stråth: ”Introduction: A European Memory?” in A European Memory? Contested Histories and Politics of Remembrance. Eds. M. Pakier & B. Stråth, Berghahn Books, New York / Oxford 2010

[Fotos von Ainur Elmgren: Ausstellung Nordische Erinnerungsorte von Peter Stadius und Ainur Elmgren (Universität Helsinki) und Norbert Götz (Universität Södertörn), im Finnischen Parlamentshaus, Helsinki (Oktober 2012).]