Irritationen – nicht nur in Corona-Zeiten

von NORDfor

Ein Kommentar von Prof. Dr. Elin Fredsted

zum Editorial 2020 von Joachim Grage »Dänisch-deutsche Geschichtsvergessenheit«

und zum Gastbeitrag von Friis Arne Petersen

»Erinnerung und Politik: Ein Blick auf Geschichte und Kultur im deutsch-dänischen Austausch 2017–2020«

 

Als Bewohnerin der deutsch-dänischen Grenzregion fühle ich mich von einer Textpassage in Joachim Grages Editorial doch etwas irritiert:

„Die Situation ist heute so stabil, dass die Errichtung eines Grenzzauns zum Schutz vor deutschen Wildschweinen (dessen Wirksamkeit angezweifelt wird) im Herbst 2019 ebenso wenig Irritationen auslöste wie jüngst die Schließung der Grenze im Zuge der Corona-Pandemie.“

Um einen solchen Eindruck zu gewinnen, muss man wohl ziemlich weit weg vom Schweine­zaun und der zeitweilig geschlossenen, jedoch immer noch intensiv kontrollierten Grenze leben, an der ich wöchentlich Richtung Dänemark im Stau stehe. Oder man hat einfach die Perspektive der Hauptstadtpolitiker angenommen?

Als ich am 12. Juli auf dem Rückweg von meinem Sommerhaus in Dänemark zu meiner Wohnung in Flensburg gefahren bin, bemerkte ein Mitfahrer ironisch beim Anblick des Staus an der Krusauer dänischen Passkontrolle: ‚Deutschland ist EU-Land, Dänemark offensichtlich nicht.‘

Brauchen gute europäische Nachbarn im Jahr 2020 Grenzen und Zäune? Als Grenzbewohnerin in Schleswig muss ich feststellen, dass viele Menschen hier der Ansicht sind: »Wohl eher nicht!« Die Zäune und Grenzkontrollen sind lästig, besonders, weil sie schnell den Charakter von Mauern annehmen können, die Menschen von ihren Nachbarn, Verwandten oder Freunden trennen.

Als Dänemark 2015 die »vorläufige« Grenzkontrolle einführte, wurde die wöchentliche Fahrradtour an der Nordseite der Flensburger Förde weniger verlockend, weil ich unterwegs gelegentlich gestoppt und kontrolliert wurde – selbst am ehemaligen Flensburger Stadtwald.  Der Schweinezaun (2019) bedeutet eine zusätzliche Einschränkung der Bewegungsfreiheit an der Grenze. Verschärft wird die Situation durch die Corona-Pandemie; aber man bekommt nunmehr den Eindruck, dass die Kontrolle immer intensiver und die Hürden für Grenzbewohner ständig größer gemacht werden. Jedoch werden diese Verschärfungen der Kontrollen kaum zurückgenommen, auch wenn es die Situation aktuell mit sehr niedrigen Infektionszahlen auf beiden Seiten zulassen würde. Deutschland hob rechtzeitig vor Ferienbeginn die Kontrolle an der Grenze auf – Dänemark nicht, sehr zum täglichen Ärger (nicht nur zur Irritation) der Berufspendler, die lange Staus an der Grenzkontrolle Richtung Norden in Kauf nehmen müssen.

Eine dänische Studentin äußerte sich neulich kritisch mit der folgenden Bemerkung: Hoffentlich schämten sich nun die dänischen Politiker, die bei den Auftaktfeierlichkeiten zur 100-jähringen Grenzziehung im Februar die ausgezeichneten und vorbildlichen Verhältnisse an der deutsch-dänischen Grenze in hohen Tönen lobten. (NB: Diese Feierlichkeiten fanden natürlich nicht in der betroffenen Region, sondern in Kopenhagen statt). Wenige Wochen später war diese Grenze für die Bewohner auf beiden Seiten de facto hermetisch geschlossen (jedoch nicht für Berufspendler und LKW-Fahrer).

Neulich staunte ich nicht schlecht über die Bemerkung in einer dänischen Zeitung, dass es wohl nicht so schön wäre, wenn deutsche Touristen auf Röm die Servietten an der Hot-Dog-Bude anhusteten. Sind denn deutsche Corona-Viren schlimmer oder ansteckender als die dänischen?

Wo liegt eigentlich das Problem?

Das Problem liegt meines Erachtens in einem spezifisch dänischen Habitus, den ich als das Schneckenhaussyndrom bezeichnen möchte: Wenn die »große« Welt zu ungemütlich wird, zieht man sich in sein national eingeengtes Schneckenhaus zurück: man er sig selv – nok! /  man ist sich selbst – genug!

Schon der Dichter Jeppe Åkjær erkannte diesen Habitus während des Ersten Weltkriegs:

»Du pusling-land som hygger dig i smug,

Mens hele verden brænder om din vugge«[1]

Nebenbei bemerkt: Nicht alle hatten die Gelegenheit, sich während des Ersten Weltkriegs zu »hyggen«, z.B. nicht mein Großvater, seine zwei Brüder und zwei Schwäger, die alle diesen Krieg als Soldaten für Deutschland in den Schützengräben verbrachten. Wie vorher und auch später waren es die Bewohner der Grenzräume, die unter dem politischen Nationalismus besonders zu leiden hatten und wiederholt zum Spielball nationalistischer Politik wurden.

Lang ist die Liste der regionalen, grenzüberschreitenden Kulturveranstaltungen, die wegen Corona abgesagt oder auf den Herbst verschoben worden sind. Ich möchte hier nur einige wenige erwähnen, die abgesagt werden mussten, wie beispielsweise das große »Folkefest« in Ribe mit einer Vielfalt von Vorträgen und kulturellen Events sowie Theatervorstellungen an Schulen mit deutschen und dänischen Schülern als Schauspieler. Auch zahlreiche kulturelle Veranstaltungen im Rahmen des Programms »KursKultur 2« der Region Sønderjylland-Schleswig mit Akteuren von beiden Seiten der Grenze mussten abgesagt bzw. auf den Herbst verschoben werden. Eine Liste darüber, was alles geplant, jedoch nicht verwirklicht werden konnte, ist im Grunde jedoch uninteressant. Interessanter ist es, was bis heute tatsächlich realisiert wurde. Hier möchte ich zwei konkrete Beispiele erwähnen, die auch außerhalb der näheren Grenzregion zu erleben sind:

Zunächst möchte ich den Dokumentarfilm von Wilfried Hauke »Das unsichtbare Band« erwähnen, der im Frühjahr 2019 an verschiedenen Orten mit Bewohnern auf beiden Seiten der Grenze gedreht wurde und im Juni zur Primetime im NDR-Fernsehen gezeigt wurde. Der Film gibt einen guten Einblick in die Stimmungen direkt an der deutsch-dänischen Grenze nach dem Bau des Zauns, aber vor Corona. Außerdem enthält der Film einen historischen Rückblick auf die Ereignisse in Flensburg vor und nach der Abstimmung 1920 mit vielen Originalaufnahmen, die – im Gegensatz zu einigen nachgestellten Szenen im dänischen TV-Vierteiler – historisch authentisch sind. Die Luftaufnahmen entlang der Grenze sind wunderschön und die Menschen sprechen ihre eigene Sprache. Dieser zweisprachige Film verdient es unbedingt, auch in Dänemark ausgestrahlt zu werden.

Absolut erwähnenswert ist eine zweisprachige Buchveröffentlichung von Modersmål-Selskabet (Hgg. Ulla Weinrich und Michael Ipsen: Sprog på grænsen. Grenzsprachen. Modermål-Selskabet, København 2020). Das Buch ist ein »vennebog« und ein »vendebog« auf Dänisch und Deutsch. Es trägt mehrere Untertitel: Sproch o æ græns, Grenzspracken, Spräke längs e gränse; denn alle fünf schleswigschen Sprachen (Rigsdansk, Synnejysk, Hochdeutsch, Niederdeutsch und Friesisch) sind im Buch vertreten. Das Ziel des Buches ist es, das Grenzjubiläum zu feiern, und dies tut auch dieser Sammelband auf vielfältige Weise. Der Fokus liegt auf den drei autochthonen Sprachen und der Rolle der beiden Hochsprachen, jedoch werden auch neuere Kontaktvarietäten wie Südschleswigdänisch sowie die Dreisprachigkeit in der deutschen Minderheit behandelt. Außerdem bringt das Buch eine amüsante, leicht ironische Erklärung, warum die deutschen Touristen die Dänen so freundlich finden. Schockierende Lektüre ist dagegen der von einer Fachleiterin verfasste Bericht über den miserablen Status des Faches Deutsch im dänischen Bildungssystem.

Zu guter Letzt möchte ich vorschlagen, dass man in Zusammenhang mit den Markierungen des Grenzjubiläums zwischen den offiziellen top-down-Verlautbarungen und den lokalen, regionalen und z.T. spontanen bottom-up-Initiativen unterscheidet. Letztere sind oft innovativer und ideenreicher und können auch emotional berühren. In meiner Erinnerung haftend bleibt das ältere deutsch-dänische Paar aus Rutebüll / Rudbøl, das sich in der Corona-Zeit regelmäßig zum Frühstück an der Grenze getroffen hat – er auf der deutschen, sie auf der dänischen Seite des Grenzsteins, der wie in den Nachkriegsjahren jetzt wieder nicht überschritten werden darf. Getrennt durch die Grenze – Abstand haltend waren sie sich nahe. Die Lebenswirklichkeit vor Ort ist doch eine andere als die medial suggerierte.

[1] Jeppe Åkjær: Som dybest brønd gi’r altid klarest vand, 1916.

Elin Fredsted ist in Nordschleswig geboren, war Lektorin für Dänisch an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel; 2000-2019 war sie Professorin für Dänische Sprache an der Europa-Universität in Flensburg; 2014 dort Mitbegründerin und bis 2017 erste Direktorin des Zentrums für kleine und regionale Sprachen (KURS). Forschungsschwerpunkte: Sprachkontakt und Mehrsprachigkeit.

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