Kampf den Mythen oder: Das böse Erwachen. Über historische Mythen und historisches Vergessen in Dänemark

von Carsten Jahnke

Ein Gastbeitrag von Carsten Jahnke. Dass Geschichte als Vehikel der Politik genutzt wird, ist schon seit langem eine Binsenweisheit, das Nationalismus aus der Kombination von konstruierter Geschichte, erlebter Gegenwart und Zukunftserwartung besteht, ebenfalls. Dass beide Elemente aber auch im Jahre 2012 noch immer aktiv das Bewusstsein der dänischen Bevölkerung beeinflussen, kommt den Dänen erst in diesen Tagen zum ersten Mal schmerzlich zu Bewusstsein. Anlass des bösen Erwachens ist die Suche der dänischen Presse nach Schlagzeilen in der Saure-Gurken-Zeit. So warb z.B. der dänische Rundfunk Danmarks Radio in der Vorweihnachtszeit in deren Enthüllungsserie Detektor mit dem Aufmacher Folkeskolens historiebøger lyver, die Volksschulbücher in Geschichte lügen. ((Sendung vom 11. Dezember 2012, http://www.dr.dk/P1/Detektor/Udsendelser/2012/12/10125419.htm)) Ausgangspunkt war die Feststellung, dass alle Schulbücher in Dänemark an der völlig falschen Behauptung festhielten, die Erde sei im Mittelalter als flache Scheibe gedacht worden und es sei erst Columbus gewesen, der mit diesem Mythos aufgeräumt habe. Diese Meinung gilt in der Wissenschaft (auch in Dänemark) spätestens seit 1945 als vollständig widerlegt, hält sich aber in der öffentlichen Meinung hartnäckig. Man könnte dieses sicherlich als Petitesse abtun, wäre da nicht die Tatsache, dass das Schulbuchwissen in Dänemark seit 2006 durch eine von Politikern besetzte Schulbuchkommission, der so genannten Kanonkommission, definitiv bestimmt wird und einer strengen politischen Aufsicht unterliegt. Und hier brachte eine Nachfrage bei den Mitgliedern der Kommission Erstaunliches zu Tage. Niemand, nicht einmal die ehemalige Vorsitzende des dänischen Geschichtslehrerverbandes, hatte (angeblich) jemals davon gehört, dass man sich auch im Mittelalter die Erde als Kugel vorgestellt habe: Lene Rasmussen gab unumwunden zu, dass ihr die Idee der Kugelgestalt der Erde im Mittelalter neu sei. Aber wenn dem so wäre, so könnte man den Kanon an der Stelle ändern und zusehen, wozu man dieses gebrauchen könne. ((Den skulle kunne ændres. I tilfældet med Columbus burde man lave en rettelse, og skrive hvad man kan bruge det her punkt til, siger Lene Rasmussen til Detektor.)) Gerade der letzte Nachsatz, wozu man das gebrauchen könne, macht den kritischen Punkt deutlich. Vermittelt wird nicht das neueste, wissenschaftlich fundierte Geschichtswissen. Geschichte ist vielmehr ein Vehikel, das die dänische Gegenwart vor der Folie der finsteren Vergangenheit zu erklären hilft.

Es gibt nur wenige Momente, wo die Suche nach Schlagzeilen den gesellschaftlichen Konsens, dass man eigentlich schon alles wisse, durchbricht. Das geschah Mitte August 2012, als bei Ausgrabungsarbeiten im Zuge des U-Bahnbaus in Kopenhagen frühmittelalterliche Siedlungsreste gefunden wurden. Das ist für sich genommen nicht erstaunlich und kam für die Stadthistoriker auch nicht überraschend, wie eine Nachfrage an der Universität Kopenhagen ergab. Allerdings war dieser harmlose Nebensatz der Aufmacher aller dänischen Tageszeitungen am 17. August 2012, gilt es doch als ausgemachtes “Grundwissen”, dass der bedeutende Roskilder Bischof Absalon (der Held in Saxos Gesta Danorum aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts) die Stadt Kopenhagen “gegründet” und erbaut habe, ein Grundwissen, das spätestens durch die Weihnachtsserie Absalons Hemmelighed (Absalons Geheimnis) des dänischen Rundfunks, die erstmals 2006 ausgestrahlt wurde, wirklich jedem dänischen Kind ein Begriff ist. Auch das ist eigentlich nicht besonders bedenklich. Allerdings hängt der gesamte dänische Nationalmythos an der Person Absalons, als dem weisen Herrscher und Ratgeber des Königs, der Dänemark vor den besonders verhassten Deutschen als wahren Nachfolgern des römischen Imperiums herausgehoben hat. Kratzt man für Kopenhagen an der Gründergestalt Absalon, so kratzt man gleichzeitig an dem dänischen Nationalheld par excellence, mit unabsehbaren Folgen.

Das Gleiche gilt für die seit 2010 verstärkt in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückte Aufarbeitung des preußisch-dänischen Krieges von 1864 und die Schlachten von Düppel und Alsen. Die Bestseller des dänischen Autors Tom Buk-Swienty, die in den letzten Jahren erschienen sind, bieten wissenschaftlich nichts Neues, haben die breite Öffentlichkeit aber in helle Aufregung und Erstaunen versetzt.

Diese drei Beispiele machen deutlich, dass sich die dänische Geschichtswissenschaft in ihrem Verhältnis zur Nation und dem öffentlichen Nationalismus in einer schwierigen Position befindet. Auf der einen Seite wurde und wird sie noch immer politisch vereinnahmt, wird nur das in den Schulen gelehrt, was “nutzbringend” erscheint. Auf der anderen Seite befindet sich die Forschung in Dänemark selbstverständlich vielfach auf hohem, internationalen Niveau und kommt in ihren eigenen Recherchen heutzutage weit über die nationale Sichtweise hinaus – nur, dass das nicht nach außen dringt. Die Kluft zwischen der Forschung und dem “Wissen” der Öffentlichkeit ist heute breiter denn je.


Der Mittelalter- und Hansehistoriker Carsten Jahnke ist seit 2008 Universitätslektor am SAXO-Institut an der Universität Kopenhagen. Er promovierte mit einer Arbeit über Heringsfang und -handel im Ostseeraum des Mittelalters und forschte im Rahmen seines Habilitationsprojekts über Netzwerke in Handel und Kommunikation an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert am Beispiel zweier Re­valer Kaufleute. Nach langen Jahren in Kiel ist er seit 2004 an der Universität Kopenhagen tätig. Momentan widmet er sich u.a. der Schifffahrts- und Wirtschaftsgeschichte des Ostseeraums, dänisch-brandenburgischen dynastischen Verbindungen im Mittelalter, aber auch nationalen Mythen und ihrer Aufarbeitung.