Nicht nur Fjorde und Stabkirchen – Wasserkraftindustrie in Norwegen nominiert als UNESCO-Weltkulturerbe

von Christian Berrenberg

Mit etwas Glück erhält Norwegen im Sommer dieses Jahres seinen siebten Eintrag in der UNESCO Welterbeliste. Doch handelt es sich nicht um hanseatische Geschichte, Stabkirchen oder Fjorde. Auf der 39. Versammlung des Welterbe-Komitees vom 28. Juni bis zum 08. Juli in Bonn wird über die Aufnahme der Industriestandorte Rjukan, Notodden, Odda und Tyssedal ins Weltkulturerbe entschieden.

Vemork

Das 1911 in Betrieb genommene Wasserkraftwerk Vemork. Foto: CC-BY Christian Berrenberg

Die Industriestadt Rjukan zusammen mit Notodden im Regierungsbezirk Telemark in Südnorwegen sowie die Orte Odda und Tyssedal in Hordaland (Westnorwegen) formen, so im Antragstext zu lesen, „an outstanding picture of the early 1900s, when the second industrial phase created the foundations for the growth and prosperity that characterise modern social development in the West.“ ((http://whc.unesco.org/en/tentativelists/5472/))

Bis Ende des 19. Jahrhunderts eine kleine und nicht nur wirtschaftlich unbedeutende Bauerngemeinde erlangte Rjukan in kürzester Zeit Weltrang durch den Bau zweier Wasserkraftwerke, deren enorme Energiegewinnung die Produktion von künstlichem Dünger mit Hilfe des sogenanneten Birkeland-Eyde-Verfahrens gestattete. Das äußerst energieintensive Verfahren ermöglichte die Gewinnung von Stickstoff aus der Luft und wurde nach und nach durch effektivere Methoden ersetzt. Die hohe norwegische Düngemittelproduktion übertraf schnell die Gewinnung chilenischen Salpeters sowie die weniger effektive künstliche Produktion an den Niagarafällen in Nordamerika. Der Ingenieur und Industrielle Samuel Eyde gründete 1905, im Jahr der norwegischen Unabhängigkeit, in enger Zusammenarbeit mit dem Physiker Kristian Birkeland und unterstützt durch den schwedischen Banker Marcus Wallenberg den bis heute existierenden Konzern Norsk Hydro, der bereits sechs Jahre später das zu dieser Zeit weltweit größte Wasserkraftwerk Vemork in Betrieb nahm. Nur vier Jahre darauf, im Jahre 1915, startete das noch leistungsfähigere Kraftwerk Såheim (Vemork II) seine Turbinen und ermöglichte die Ansiedlung weiterer elektrochemischer Schwerindustrie. Neben der chemischen Produktion wurden an den Standorten der Norsk Hydro in Hordaland und der Telemark auch Schmelzwerke für die energieintensive Aluminium- und Zinkproduktion angesiedelt.

Såheim

Das 1915 in Betrieb genommene Kraftwerk Såheim. Foto: CC-BY Christian Berrenberg

Rjukan entwickelte sich in weniger als 20 Jahren von einer kleinen Bauerngemeinde zu einer Arbeitersiedlung mit mehreren tausend Einwohnern. Die Stadt wurde fast vollständig durch Norsk Hydro und beauftragte Architekten entworfen und sollte hohen ästhetischen und sozialen Standards genügen. 1925 investierte der Konzern 22 Millionen Kronen in Infrastruktur und Wohnungsbau und 1.230 Wohnungen – 80% der gesamten Stadt – gehörten somit Norsk Hydro. ((vgl. http://whc.unesco.org/en/tentativelists/5472/)) Die meisten der zentralen Gebäude der Stadt, darunter die zwei Kraftwerke, sind bis heute gut erhalten, nicht zuletzt, da sie aufgrund Ihrer soliden Steinbauweise und eindrucksvollen Architektur als langlebig erbaut wurden und seither als Denkmal für den Aufstieg der jungen Industrienation Norwegen stehen. Im Kraftwerksgebäude Vemork befindet sich heute das norwegische Industriearbeitermuseum samt Archiv.

Mæl

Fähranleger Mæl der Rjukanbahn. Foto: CC-BY Christian Berrenberg

Später, zum Ende des zweiten Weltkriegs, erlangte die Gegend zusätzliches nationalsymbolisches Gewicht durch den geglückten Schwerwasser-Sabotageakt, durch den eine für das deutsche Militär und die Entwicklung einer deutschen Atombombe bestimmte Lieferung schweren Wassers mitsamt der sie transportierenden Fähre von der norwegischen Widerstandsbewegung im See Tinnsjøen versenkt wurde. (Vgl. hierzu auch die Dokumentation des staatlichen Rundfunks NRK Hydros hemmelighet [Hydros Geheimnis]) ((http://tv.nrk.no/program/FALM12000793/hydros-hemmelighet))

Norwegen ist bis heute einer der größten Wasserkraftproduzenten der Welt. Aufgrund der Pionierarbeit, die in den für das Weltkulturerbe vorgeschlagenen Standorten geleistet wurde, zählt(e) das Land zu den bedeutendsten Entwicklern für Produkte und Prozesse der energieintensiven Industrien. Doch nicht nur die technische und wirtschaftliche Seite des angestrebten Weltkulturerbes verleihen dem Antrag Gewicht. Auch die sozialen, politischen und nicht zuletzt architektonischen Dimensionen, die aufgrund ihres nationalhistorischen Gewichts sehr gut bewahrt wurden, lassen auf eine Aufnahme in die Welterbeliste hoffen. Es wäre, neben der finnischen Schleiferei und Kartonagenfabrik Verla, lediglich der zweite industriegeschichtliche Eintrag des 20. Jahrhunderts in Skandinavien und bezogen auf Wasserkraft der einzige weltweit.