- 29.01.2012
- Kategorie Geschichte / Archäologie
Norwegen und der Holocaust
Am 27. Januar, vergangenen Freitag, am internationalen Holocaust-Gedenktag also, hat der norwegische Ministerpräsident Jens Stoltenberg eine bemerkenswerte Rede zur Rolle Norwegens im Holocaust gehalten. Stoltenberg fokussierte dabei vor allem auf die norwegische Beteiligung, die Zuarbeit, die Hilfsdienste, welche den Deutschen auf unheilvolle Weise in die Hände spielten. In einer bisher nicht dagewesenen Deutlichkeit hob Stoltenberg die norwegische Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht in Bezug auf den Völkermord an den Juden und anderen verfolgten Gruppen hervor. Er sprach eine offizielle Entschuldigung für diese Taten aus und gab seiner Bedauerung Ausdruck, dass diese Dinge auf norwegischem Boden geschehen konnten.
Das norwegische offiziell gepflegte Geschichtsbild hob über Jahrzehnte primär darauf ab, das „Böse“ sei von außen gekommen und die norwegischen Nationalsozialisten um Vidkun Quisling zu verdammende Ausnahmen von der Mehrheitsbevölkerung, die anständig geblieben sei. Wenn die Widerstandsbewegung auch begrenzte Kreise einbezog, so wurde der Widerstandsmythos, der nach dem Krieg gepflegt wurde, für das gesamte norwegische Volk in Anspruch genommen.1 Erst langsam kam eine differenziertere Aufarbeitung der Zusammenarbeit norwegischer Stellen mit den Deutschen in Gang, seit sich Historiker wie Hans Fredrik Dahl, Øystein Sørensen oder Odd-Bjørn Fure ab den 1980er Jahren intensiver diesem Themenkreis widmeten. Dennoch ist die Beteiligung an der Aufspürung, Verhaftung und Deportation der norwegischen Juden lange im Hintergrund geblieben und eine offizielle Entschuldigung, wie sie jetzt ausgesprochen wurde, ist ein Novum.
Unter den Zuhörern befand sich Samuel Steinmann, der letzte Überlebende der 532 Juden, die im Herbst 1942 mit dem deutschen Truppentransportschiff SS Donau nach Stettin verschifft wurden, um an Land weiter nach Auschwitz deportiert zu werden. Die Verhaftungen wurden von norwegischen Polizisten unter Leitung des Osloer Polizeichefs Knut Rød vorgenommen. „Er trägt die Verantwortung dafür, dass die Deportation der jüdischen Bevölkerung so ‚wohlorganisiert‘ und ‚reibungslos‘ verlief.“2
Die Stoltenberg-Rede markiert einen wichtigen Schritt, und geht über eine 1998 den jüdischen Opfern und ihren Organisationen gewährten finanziellen Entschädigung durch den norwegischen Staat noch weit hinaus. Das Eingeständnis einer Mitschuld zeigt, dass die voranschreitende Erforschung der ‚dunklen Seiten‘ der Besatzungszeit in Norwegen auch Spuren in der öffentlichen Auseinandersetzung zieht. Ein weiterer Aspekt, der Stoltenberg zu dieser Rede motiviert haben könnte, wenn auch womöglich unbewusst und jedenfalls nicht offen benannt, dürfte der durch das Breivik-Massaker im Sommer 2011 ausgelöste Schock gewesen sein. Wenn auch die unmittelbare Erschütterung wieder dem Alltag und der sich unweigerlich vollziehenden Verdrängung gewichen ist, könnte man die Vermutung anstellen, dass sich die Nachwirkungen wie in diesem Fall eher subkutan vollziehen.
1 Vgl. Susanne Maerz: „Landesverrat versus Widerstand – Stationen und Probleme der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ in Norwegen.“ In: NORDEUROPAforum. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur N.F. 8 (2005:2), S. 43–73.
2 Ulrich Brömmling: „Das verbotene Land.“ In: Die Zeit 35/2007, 23.8.2007.