Spinnen die Finnen? Kulturpessimistische Reaktionen auf bildungspolitischen Pragmatismus

von Jan Hecker-Stampehl

Vor einigen Tagen machte eine Meldung in den deutschen Medien nochmals die Runde, die bereits im November und Dezember für Diskussionen gesorgt hatte: Finnland werde in einem reformierten Unterrichtsplan ab 2016 das handschriftliche Schreiben aus dem Schulunterricht verbannen. In der Vorweihnachtshektik hatte man wohl nicht recht Zeit für gepflegtes kulturpessimistisches Wehklagen, so dass die Angelegenheit nun noch einmal hochgekocht wurde. Prompt mussten die Pressemitarbeiter der finnischen Botschaften und Vertreter des finnischen Unterrichtsministeriums die Sache wieder gerade rücken: Nein, Finnland schafft nicht den Handschriftunterricht ab, sondern es wird die verpflichtende Unterrichtung von Schreibschrift abgeschafft, auf Finnisch „kaunokirjoitus“ [wörtlich: „Schönschrift“] bzw. in der zweiten Landessprache Schwedisch – dem Deutschen näher – als „skrivstil“ bezeichnet.

Die verschreckten deutschen Bildungsexperten, die sofort das Schlimmste befürchten, auf der einen Seite – die technologieaffinen Finnen, die flüssiges Schreiben auf einer Computertastatur gar zu einer „wichtigen nationalen Kompetenz“ erklären, auf der anderen Seite: Es ist fast, als hätte man sich verabredet, um die Extreme einer solchen Debatte möglichst eindrücklich zu demonstrieren. Die deutschen Reaktionen verkennen dabei, dass dieser Vorschlag in Finnland selbst keineswegs unumstritten ist. Eine finnische Journalistin warnte gar davor, handschriftliche Fähigkeiten könnten in Zukunft zur elitären Kompetenz und damit zum Symbol von gesellschaftlicher Macht und kultureller Überlegenheit werden. Vertreter_innen des Unterrichtsministeriums versuchen, die hitzige Debatte zu beruhigen. Es geht gar nicht unbedingt um perfektes Zehn-Finger-System auf der Tastatur, sondern um eine pragmatische Anpassung der Lehrpläne. Den Schüler_innen   solle vor allem ein möglichst vielseitiger und gut informierter Umgang mit der modernen digitalen Informationstechnik vermittelt werden. Ansonsten, so ein an der Reform der Lehrpläne maßgeblich beteiligter Ministerialer, werde man sich der Lächerlichkeit preisgeben:

„Die Welt entwickelt sich schnell. Die Grundlagen eines Lehrplanes muss man derart gestalten, dass man zehn Jahre später kein donnerndes Lachen hört.“ (([„Maailma menee nopeasti eteenpäin. Opetussuunnitelman perusteet pitäisi laatia siten, ettei kymmenen vuoden päästä kuulu naurunhörähdyksiä.“]))

So schnell man deutscherseits vor einigen Jahren dabei war, das kleine nordeuropäische Land auf der Grundlage der PISA-Untersuchungen unkritisch zum Bildungswunderland zu verklären, so rasch war man nun mit Kritik zur Stelle.

„Ausgerechnet das Pisa-Musterland schaffe eine jahrtausendealte Kulturtechnik ab, es drohe die digitale Demenz schon im Kindesalter“,

so eine Stimme, die all die vor Empörung bebenden Warner wieder zu beruhigen suchte. Nun mal langsam: Diese Diskussion gibt es in der deutschen Bildungspolitik doch auch schon, teilweise wird die Schreibschrift schon gar nicht mehr gelehrt, einige Bundesländer diskutieren ihren Wegfall im Unterricht. Warum muss eine solche Entscheidung in der deutschen bildungspolitischen Debatte gleich unter der Überschrift „Untergang des Abendlandes“ geführt werden? Auch in Finnland wird weiterhin die Druckschrift gelehrt, so dass das Land hoffentlich doch vor dem zivilisatorischen Verfall bewahrt wird. Und die meisten von uns tippen doch trotz Schreibschriftkompetenz heutzutage mehr auf der Computertastatur als dass wir seitenlange Briefe schreiben.

Wahrscheinlich werden viele Menschen auch in Zukunft nach wie vor erkennen, dass die schnelle Notiz auf einem Stück Papier (es wird oft auf Kalendereinträge oder Einkaufszettel verwiesen) nach wie vor eine nützliche und effiziente Technik ist. Aber zu behaupten, dass assoziatives Schreiben in handschriftlicher Form effizienter sei – zu jeder Studie, die das behauptet, wird es wohl eine Gegenstudie geben. Darüber hinaus zeichnet sich eine technologische Entwicklung ab, die unsere Hände beim Produzieren von Text überflüssig machen wird. Natürlich wird in einigen Jahren auch nicht jeder mit digitaler Sprachwandlung arbeiten müssen – aber wir werden im Zuge des digitalen Wandels über kurz oder lang ohnehin noch weitere Kulturtechniken verschwinden sehen. Stattdessen kommen neue hinzu – für die wir unsere Kinder wappnen sollten.

Statt sich in kulturpessimistischen Reaktionen zu ergehen, sollten sich deutsche Bildungspolitiker_innen ernsthafter um den Stellenwert informationstechnischer Kompetenz und moderner Recherchentechniken im digitalen Zeitalter kümmern – sowohl in den Schulen als auch in den Hochschulen.

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