Wiederholt sich Geschichte? — Der „fürchterliche Zigeunerkrieg“ von Pattburg

von NORDEUROPAforum.blog

Im Juli 1938 versammelten sich auf Einladung des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt im französischen Évian Vertreter von 32 Nationen und zwei Dutzend Hilfsorganisationen. Das Deutsche Reich, Italien, Japan, die Sowjetunion und einige mitteleuropäische Länder waren aus naheliegenden Gründen nicht eingeladen: Es ging um eine konzertierte Rettungsaktion für die bedrohten Juden, es ging um die Frage von Grenzöffnung und Asyl. Die international zugrundeliegenden Motive waren, dass einerseits das Flüchtlingsproblem zunehmend bedrückender wurde, andererseits niemand die Juden haben wollte. Unpraktikable, ja abenteuerliche Vorschläge wurden diskutiert – die Konferenz scheiterte, eine Aufnahmeregelung kam nicht zustande, die internationale Staatengemeinschaft versagte. Die weiteren Folgen sind bekannt.

Das Wiederholungsdrama

Es heißt, dass dieses, nicht zuletzt auch moralische Scheitern der Évian-Konferenz eine Ursache gewesen sei für Angela Merkels Grenzöffnungs-Entscheidung im September 2015; die internationale Abschottung durfte sich nicht wiederholen. Wie dem auch sei – vor unseren Augen spielt sich ein Wiederholungsdrama ab – wenn auch die Fluchtursachen damals andere waren als heute –, in Deutschland, in Nordeuropa, in Italien, im Mittelmeer. Und wir wissen, dass das Flüchtlingsproblem weltweit noch zunehmen wird. Die Parallelen von damals zu heute sind zahlreich, nahezu unübersehbar. Dennoch: Die Lektionen scheinen nicht gelernt zu sein, die Migrations- und Flüchtlingspolitik dreht sich wieder in einer Aufwärtsspirale. Damals stand an ihrem Ende der Genozid.

Staatenlos und unerwünscht

Ein Lehrbeispiel ereignete sich im Januar 1934 an der deutsch-dänischen Grenze. Was damals geschah, wurde in den Medien halb Europas ausgebreitet (generell nicht mit Wohlwollen für die Opfer) – in der heutigen Erinnerungskultur allerdings spielt der Vorfall außer in überschaubaren Historiker-Zirkeln so gut wie keine Rolle. Eine Ausnahme bildet das Holocaust-Zentrum in Oslo, dort hat man darüber berichtet.[1] Das Jahr 1934 wurde für die norwegische Genozidforschung zum Merkjahr.

Da für sie die Situation immer bedrängender geworden war, wollte eine Gruppe von 68 Roma von Belgien kommend, wo sie die letzten Jahre gelebt hatten, über Deutschland und Dänemark wieder in ihre Heimat Norwegen zurück (die Gesamtzahl ist wegen der mitreisenden Kinder unscharf). Die meisten von ihnen waren in Norwegen geboren (auch hierzu sind die Angaben unscharf, die Forschung über die Roma ist sehr begrenzt) und besaßen einen norwegischen Pass, waren norwegische Staatsbürger. 1927 jedoch war das norwegische „Fremdengesetz“ geändert worden, es enthielt nun einen sog. „Zigeunerparagrafen“, der erst 1956 gestrichen wurde. Sie hatten zuvor versucht, mit der Fähre von Saßnitz über Trelleborg durch Schweden als Transitland zu reisen (dies wäre ihr „üblicher“ Reiseweg gewesen), waren aber von schwedischen Behörden als staatenlos und unerwünscht abgewiesen worden. Ihr Hab und Gut hatten sie, um die Reise finanzieren zu können, zuvor verkauft.

Die „Probleme“ unter Nachbarn lösen

Über den kleinen dänischen Grenzort Pattburg wollten sie nun zurück nach Norden kommen. Die dänische Grenzpolizei hielt die Gruppe fest, da ein Bescheid der norwegischen Behörden vorlag, mit der die Einreise nach Norwegen untersagt wurde. Es wurden Verhandlungen mit norwegischen, dänischen und deutschen Stellen geführt. In der lokalen Presse war die Rede vom „fürchterlichen Zigeunerkrieg an der Grenze“, es hatten nämlich die verzweifelten Frauen einen lauten Aufstand veranstaltet, 25-30 Polizisten wurden herbei gerufen und gegen die „schäumenden Frauen“ eingesetzt; auch in europäischen Medien konnte man von dem Abschiebespektakel lesen. Seinerzeit hat ein dänischer „Zigeunerforscher“ die Stimmung in der Gruppe protokolliert: „Die meisten von uns sind in Norwegen geboren und sind Norweger. Selbst wenn wir hundert Mal hin und her gehen müssen, werden wir dies tun, um nach Norwegen zurückzukommen. Es ist ein Skandal, wie man uns behandelt.“ Die norwegische Zeitung Aftenposten schrieb am 29. Januar 1934 über „eine Zigeunerbande, die Norwegen liebt. Sie will sich hier niederlassen, weil sich das Reiseleben nicht länger lohnt. Die norwegischen Behörden bedanken sich.“ Die deutschen Stellen machten gegenüber dem norwegischen Staat ihre Auslagen geltend (u.a. Reisekosten für die Fahrten von Pommern an die dänisch-deutsche Grenze), diese wurden erstattet; der Bericht des Osloer Holocaust-Zentrums kommt zu dem Schluss: Norwegen bezahlte das nazistische Deutschland, weil es Norwegen behilflich gewesen war, das norwegische „Zigeuner-Problem“ zu lösen.

Schließlich kam die Gruppe unter deutscher Bewachung ins Lager Bahrenfeld bei Altona. Darüber berichtete die Zeitung „Hejmdal“ im April 1934, sie sollten dort „zu anständigen und brauchbaren Menschen erzogen“ werden, „die Männer sollen produktive Arbeit leisten, und die Frauen sollen Kochen lernen und Reinemachen“, in der Wirklichkeit bedeutete dies, dass man ihnen sinnlose Aufgaben stellte oder sie sich selbst überließ.

Sie blieben dort nicht lange, da man auch nicht recht wusste, was man mit ihnen anfangen sollte – die Diskriminierungspolitik war Alltag, die Auslöschung noch nicht. Sie wurden in kleinen Gruppen wieder nach Belgien zurückgebracht, von wo sie vor kurzem erst geflohen waren. Die „Aufnahme“ funktionierte aber nur deswegen, weil die Deutschen die Roma buchstäblich über die Grenze gesetzt hatten, die Sprachregelung war, dass man sie aus „humanitären Gründen“ aufgenommen habe – sie waren zum Spielball einer europäischen Diskriminierung, einer europäischen Rassen- und Flüchtlingspolitik geworden. Bis zur Besetzung Belgiens und Frankreichs durch die deutsche Wehrmacht im Sommer 1940 gab es für die skandinavischen Roma keine Auswege mehr. Ihr weiteres Schicksal ist unsicher, hatte sich doch in den zehn Jahren die Zusammensetzung der Gruppe verändert, etwa durch die in Belgien und Frankreich geborenen Kinder: Fest steht, das  35 von den anfangs 68 Personen 1943/44 nach Auschwitz-Birkenau deportiert worden sind; bekannt ist, dass sie am Ende des Regimes, aber noch vor den Todesmärschen, einem letalen „KZ-Tourismus“ ausgesetzt waren: von Auschwitz nach Buchenwald und Dachau und wieder zurück nach Auschwitz.

Nur eine Handvoll Mitglieder der Gruppe hat KZs und Krieg überlebt. Versuche, als politische Häftlinge anerkannt zu werden, scheiterten, da sie nicht am Widerstand teilgenommen hatten. In Belgien und Frankreich erhielten sie nur befristete Aufenthaltsgenehmigungen, sie galten weiterhin als staatenlos. Versuche, von Österreich, Frankreich oder Belgien nach Norwegen zurückzukehren, wurden ihnen ebenfalls verwehrt, der „Zigeunerparagraf“ galt ja immer noch. Die Einreise als Touristen via Dänemark wurde abgelehnt mit der Begründung, sie hätten zu wenig Geld dabei und wären im Übrigen „unerwünscht“. Erst neun Jahre nach Ende des Krieges gelang es einem(!) Roma wieder nach Norwegen einzureisen.

Nationale Interessen und europäisches Trauma

Das Schicksal von Flüchtlingen hat damals wie heute zurückzustehen gegenüber dem, was damals wie heute „nationale Interessen“ genannt wird – in Wahrheit sind es nationale Erbärmlichkeiten. Vor einiger Zeit meinte ein dänischer „Nationalismus-Forscher“, dass die Nachbarn ihren nationalen Eigensinn pflegen und feiern sollten und nicht für das deutsche Trauma in Haftung genommen werden wollten. Das Beispiel der norwegischen Roma zeigt, dass wir es nach dem Holocaust und der Ausrottungspolitik im Umgang mit Flucht und Vertreibung mit einem europäischen Trauma zu tun haben, denn auch die Umkehrung der Bilanz des norwegischen Holocaust-Zentrums ist richtig: Das nazistische Deutschland half den Nachbarn ihr „Zigeuner-Problem“ zu lösen.

Die europäische Geschichte ist auch eine Geschichte von Schuld und Scham – damals wie heute ist von Scham selten die Rede.

Dank an Malte Gasche für investigative Unterstützung!

[1] Brustad, Jan A.S. u.a.: Et uønsket folk. Utviklingen av en ”sigøynerpolitikk” og utryddelsen av norske rom 1915­1956. Oslo 2017; https://www.hlsenteret.no/aktuelt/2015/a_bli_dem_kvit_hl_senteretpdf_lavoppl.pdf [07.07.2018]. Diesem Artikel entstammen auch die übrigen Zitate im Text.