Den Zweiten Weltkrieg auf Twitter „nacherleben“?

von Jan Hecker-Stampehl

Ein Oxford-Absolvent hat vor kurzem ein Web 2.0-Geschichtsprojekt gestartet, das rasch sehr  große Aufmerksamkeit geweckt hat. Auf seinem Twitter-Account @RealTimeWWII lässt Alwyn Collinson seit dem 31. August – als der Vorabend des Kriegsausbruch sich zum 72. Mal jährte – die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs Tag für Tag erneut Revue passieren. Die Kurzbeschreibung, die er dazu liefert, liest sich so:

Livetweeting the Second World War, as it happens on this date and time in 1939, and for 6 years to come.

Im ersten Moment dachte ich, „wow, tolle Idee“ und war von dem Projekt erstmal sehr angetan. Ich habe den Beitrag hier zunächst begonnen, weil die derzeitigen Tweets die Ereignisse im Spätherbst und Winter 1939/40 und somit den finnisch-sowjetischen Winterkrieg stark in den Mittelpunkt stellen – was einleuchtend ist, weil der Winterkrieg in dieser Phase den einzigen europäischen Kriegsschauplatz darstellte und sich die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Finnland richtete. Darauf dachte ich, lohnt es sich, angesichts des Profils, das ich diesem Blog geben wollte, hinzuweisen – hier ein Beispiel:

Bei näherer Betrachtung stellte sich bei mir aber doch Ernüchterung ein: 140 Zeichen für eine Statusmeldung – da kommt ja nicht viel dabei herum. Historiker, die deutlich länger im Web 2.0 unterwegs sind wie Jan Hodel, haben da bereits einige kritische Anmerkungen gemacht. Leider wird Geschichte hier doch sehr auf isolierte Fakten reduziert, wie man schnell feststellen muss. Trotz der vielfachen Tweets pro Tag entsteht schwerlich ein analytisch weiter ausgreifendes Bild, Hodel spricht nicht zu Unrecht von übertriebenem Historismus. Allerdings hat David Bernsen in seinem Blog zu Medien im Geschichtsunterricht eine konstruktive Kritik dazu veröffentlicht, auf die Hodel wiederum reagiert hat. Es scheint also Bewegung in die Diskussion gekommen zu sein.

Die nun schon sage und schreibe 176.223 Follower auf Twitter, mehr als 1.300 Facebook-Likes und die teilweise frenetischen Kommentare über das Projekt zeigen, dass die modernen Web 2.0-User ein dem Takt und den medialen Gewohnheiten der heutigen Zeit angepasstes Konsumverhalten an den Tag legen. Geschichte wird häppchenweise verdaut oder besser wiedergekäut und es entsteht der Eindruck, dass man Geschichte einfach nur so „vorfinden kann“, das sie praktisch auf der Straße, besser gesagt: auf dem Bildschirm, liegt. Welche Mühen es macht, die isolierten Fakten, einzelne Quellenfragmente oder auch große Mengen empirischer Daten zu sammeln, auszuwerten und zu einem Puzzle zusammenzusetzen, fällt dadurch ein weiteres Mal unter den Tisch. Wann fangen Studierende an, Nachweise auf @RealtimeWWII in ihre Fußnoten einzubauen?

Bernsen verweist darauf, dass man Twitter, etwa im Rahmen seiner Unterrichts-Modellversuche auf TwHistory, als ein Medium von anderen einsetzen kann, es aber einbetten muss, weil nur so die Rückbindung an die Quellen gelingen kann. D’accord! Auch Hodel hat eine Erörterung verfasst, unter welchen Bedingungen er sich einen Twitter-Einsatz vorstellen kann. Hier deuten sich denkbare Szenarien an, wie man mit dem Medium kreativ umgehen könnte. Ich habe bisher nur „analoge“ Rollenspiele in „real“ vor Ort befindlichen Seminargruppen eingesetzt und sehe die Chancen in einer solchen Aneignung der Perspektive historischer Akteure (sofern man hier überhaupt von Aneignung sprechen kann…zumindest Annäherung!) durchaus. Die in den drei Beiträgen bereits aufgelisteten Vor- und Nachteile muss ich hier nicht reiterieren. Wegen der geringen Zeichenzahl erschiene mir ein rein auf Twitter basierendes „Re-Enactment“ indes zu wenig Raum zu bieten. Aber eine Idee wäre es durchaus, in einer offline oder im blended learning ablaufenden Lehrveranstaltung durch eine nebenherlaufende „inszenierte“ Twitter-Kommunikation auf bestimmte Aspekte einzugehen oder biographische Elemente, die sich im normalen Kursszenario nicht abdecken ließen, so als Add-on einzubinden.

Darüber hinaus ist die Frage natürlich nochmal allgemeiner zu stellen, welche Rolle Twitter in der wissenschaftlichen Arbeit generell spielen kann. Mir scheint es so zu sein – in die Kerbe haut m.E. auch Bernsen – dass Twitter eine Brücke zwischen verschiedenen anderen medialen Zugriffen sein kann. Als komplexere wissenschaftliche Inhalte alleinig tragendes Medium hat es dann doch zu viele shortcomings.

Thematisch eine Bemerkung: Es ist sicher kein Zufall, dass gerade der Zweite Weltkrieg als Twitter-Projekt so weite Kreise zieht. Ein universales Thema, und man muss Collinson immerhin zu gute halten, dass er sich um die Einbeziehung einer Reihe von Ländern bemüht und Mitstreiter aus anderen Ländern hinzuzieht. Allerdings ist es ein weiterer Schritt in Richtung einer Verengung von Geschichtsvermittlung auf wenige Themen, ganz nach dem Motto „NS und Zweiter Weltkrieg gehen immer!“ Etwas Positives dann noch: Ich persönlich werde @RealTimeWWII erstmal weiter verfolgen – für mich sind die einzelnen Tweets so kleine Aufmerksamkeits-Ahas geworden und erinnern mich daran, dass ich zu bestimmten Aspekten längst mal etwas nachschlagen wollte oder ich mich dazu tiefer einlesen wollte.

P.S. Mal sehen, ob Collinson die sechs Jahre bis 2017 durchhält…