Erinnerungskultur 2.0 · Das Projekt „1001 Geschichten über Dänemark“

von Jan Hecker-Stampehl

1001 stories of Denmark
Screenshot der englischsprachigen
Android-App

Ich habe das Stichwort „Erinnerungskultur 2.0“ auf diesem Blog bei einem früheren Beitrag  bereits verwendet, es ging um ein norwegisches Projekt. Mal sehen, ob daraus nun sogar der Titel einer längeren Serie wird. Jedenfalls ist es hochspannend, zu beobachten, wie in Nordeuropa mehrere erinnerungskulturelle Projekte Elemente des Web 2.0 aufgreifen. In diesem Fall handelt es sich um das Projekt 1001 Geschichten über Dänemark, das erfreulicherweise nicht nur auf Dänisch, sondern nahezu vollständig (!) auch auf Englisch zugänglich ist. Das Grundprinzip ist schnell erklärt: Die Seite verzeichnet 1001 Stätten des dänischen kulturellen Erbes, die sich mithilfe einer Karte oder nach verschiedenen Kriterien (zuletzt hochgeladen, am besten bewertet, alphabetisch) durchsuchen lassen. Eingetragene User können eigene Beiträge verfassen, andere Beiträge kommentieren, neue Orte hinzufügen und neben ihren eigenen Erzählungen auch Bild, Video- und Audiomaterial hochladen. Die 1001 ursprünglichen Einträge und die 50 übergreifenden Thementexte können nicht verändert, aber kommentiert werden. Betrieben wird die Seite von der Abteilung Kulturarv [Kulturerbe] innerhalb der Kulturstyrelsen, einer staatlichen Institution unter der Ägide des Kulturministeriums, welche als kulturpolitische administrative Zentrale fungiert.

Die Seite baut sehr stark auf die Einbindung der User durch ihre eigenen Beiträge. Hier ist auch die Wortwahl bemerkenswert, wenn mit dem dänischen „1001 fortællinger“ dezidiert auf das „Geschichtenerzählen“ verwiesen wird, persönlich gefärbte Erinnerungen also; die Beiträge gehen oft von eigenen Vorlieben oder der Wohn-, Arbeits- oder Kindheitsumgebung der Erzählenden aus. Da ist bei einigen schon eine gehörige Portion Nostalgie mit im Spiel, aber das ist auch gewollt, um die persönliche Note zusätzlich zu betonen. Im Anschluss an den oben bereits erwähnten Beitrag scheint es also, als ob der Beschäftigung mit Geschichte (als verabsolutierender Kollektivsingular) die subjektiven Geschichten vieler Einzelner entgegengesetzt werden sollen. Oder man könnte sagen: Monolithisch daherkommende, Allgemeingültigkeit für sich in Anspruch nehmende Deutungen werden durch solche persönlichen Beiträge aufgebrochen und bereichert. Es könnte gut sein, dass sich in bestimmten Bereichen der Geschichtsforschung künftig facettenreichere Bilder aufgrund solchen Materials zeichnen ließen. Könnten diese persönlichen Erzählungen und Kommentare nicht die Grundlage für künftige Forschungen über Alltagskultur, Lokalgeschichte und Geschichtskultur jenseits der etablierten Institutionen bilden? Auf jeden Fall besitzen solche Projekte erhebliches Potenzial zur Mobilisierung geschichtsinteressierter Privatpersonen. Auf diese Weise könnten sich viel breitere Kreise am öffentlichen Geschichtsdiskurs beteiligen. Luke Tredinnick schreibt in diesem Zusammenhang vom Potenzial digitaler Technologien, neue Arten von Geschichten zu kreieren und ein neues Verhältnis zur Vergangenheit zu erlauben.

„Technological innovation has augured what Henry Jenkins has described as ‚participatory‘ culture, in which individuals more actively intervene in the structure and make-up of cultural discourse, fashioning the stuff of culture in more personal, fragmented, and playful ways. History is clearly succumbing to this participatory mode. It is not merely the opening up of primary source materials, from census data, to genealogical records, [that] has enabled individuals to construct their own disintermediated relationship with the past. It is also that the proliferation of popular histories, and a popular engagement with the past across both new and traditional media, creates a fertile interaction of the scholarly history and mass culture which cannot leave either unchanged.“ ((Luke Tredinnick: „The making of history: remediating historicized experience.“ In: Toni Weller (Hg.): History in the Digital Age. London/New York 2013 [sic!], S. 39–60, hier: S. 43.))

Die Frage ist natürlich, ob die professionelle Geschichtsforschung bereit ist, solche Stimmen wahrzunehmen. So manche Fachvertreter werden darauf setzen, dass sich qua Institutionalisierung und qua Reputationsaufbau innerhalb hermetischer disziplinärer Publikations- und Kommunikationsforen nicht allzuviel ändert. Die Deutungshierarchien oder auch -hegemonien dürften sich als langlebig erweisen. Von daher sollte das Augenmerk auch auf der Herausforderung liegen, welche die Öffnung des historischen Diskurses für so subjektive Stimmen wie auf 1001 Geschichten über Dänemark in sich birgt. Tredinnick spricht von „the making of histories [man beachte den Plural!] in digitally mediated contexts“. ((Ibid.)) Wenn wir von Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter sprechen, sollten wir nicht nur davon reden, dass etablierte Akteure der Geschichtsvermittlung einfach den medialen Wandel vollziehen, so wichtig und bemerkenswert dies auch ist. Doch gerät in den Hintergrund, dass sich neue Formen und Foren für die Auseinandersetzung mit Geschichte herausbilden. „It is not merely that an objectively knowable past is repurposed for changing cultural contexts, but that different kinds of historical discourses are mobilized within a more participatory mode of cultural engagement. […] In the immediacy of digital culture, history perhaps regains part of its mythapoic [sic!] function.“ ((Ibid.))

Zurück zu den Geschichten aus 1001 dänischen Erinnerungsorten: Ein einführendes Video (nachfolgend mit englischen Untertiteln) zeigt Suchmöglichkeiten und einige Beispiele für Userbeiträge und gibt einen guten ersten Eindruck – verbunden mit einigen humorigen Abschnitten, welche die Schwierigkeiten aufgreifen, eine gescheite Aufnahme hinzubekommen. Klar wird aber auch, wie verschieden die Beiträge ausfallen können, vom Hamlet-Gedenkstein inklusive Gedicht-Deklamation bis hin zu einem Stück Straßenmusik, von einem begeisterten Wissenschaftler am Niels-Bohr-Institut bis hin zu einer naturnahen Interpretation der dänischen Nationalhymne.

Ergänzt wird diese Seite durch Apps für mobile Endgeräte, die für iOs und für Android bereitstehen. Unterwegs kann man also den nächstgelegenen historischen Ort, der auf der Seite verzeichnet ist, z.B. auf dem Smartphone aufrufen und sich Hintergrundinformationen anzeigen lassen. Diese Anwendung hat noch Entwicklungspotenzial, doch die Erweiterung um solch eine mobile Variante ist eine klasse Sache. Der historische Reiseführer, der durch individuelle Kommentare noch mehr Einschätzungen dazu erlaubt, ob der fragliche Ort für einen selber wirklich interessant ist – das ist schon toll. Allerdings zeigt sich dann in einigen Regionen, dass die Dichte bei 1001 (plus weitere durch User hinzukommende) möglichen Besuchsorten streckenweise etwas dürftig ist. Auf Seeland (der Insel, auf der Kopenhagen liegt) findet man nun mal deutlich mehr Stätten des kulturellen Erbes als in einigen Teilen Jütlands. Außerdem könnte man sich die einleitenden Texte dann manchmal doch etwas grundlegender wünschen, um gedruckten Reiseführern ernsthafter Konkurrenz zu machen. Mit einem RSS-Feed oder per E-Mail kann man zudem die „Geschichte des Tages“ abonnieren, natürlich keine schlechte Idee der Betreiber, um die Nutzerschaft zu wiederholten Besuchen zu motivieren.

Auf der Hauptseite kann man einzelne Orte von besonderem Interesse zu einer Route zusammenstellen, um einen Trip von Geschichtsstätte zu Geschichtsstätte zu planen. Das verweist klar auf den immer weiter wachsenden Geschichtstourismus, dessen wirtschaftliche Implikationen durch einen eigenen Abschnitt zu Wirtshäusern und Hotels unterstrichen werden. Eine Auswahl von 17 Stück wird durch die jeweils besondere Bedeutung für die dänische Geschichte in das erinnerungskulturelle Konzept eingegliedert. Ohne Frage wird der an diesem Teilprojekt beteiligte dänische Gaststättenverband über die zusätzlich in die Gasthäuser strömenden Kunden nicht wenig erfreut sein.

Und dann gibt es da noch eine schöne Überraschung: Ein eigener Abschnitt widmet sich „Europäischen Erzählungen“ – eine überzeugende Einbettung dänischer Geschichte in die europäische. Es geht darum, kulturelle, wirtschaftliche und politische Beziehungen zwischen Dänemark und dem Rest des Kontinents aufzuzeigen, Prägungen, Ideenexport und -import, Gemeinsamkeiten, auch die dänische Geschichte nicht rein national zu deuten, sondern als Teil der europäischen Geschichte zu vermitteln. Das verdient Respekt und es bleibt anzumerken, dass einem eine Überschrift wie „Europe – The Beautiful Story“ in Zeiten der Eurokrise geradezu das Herz wärmt und einen angesichts des in Dänemark traditionell starken Europa- und EU-Skeptizismus doch überrascht.

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