- 04.04.2022
- Kategorie Politik / Gesellschaft
Auf Eis gelegt: Die regionale Zusammenarbeit in Nordeuropa distanziert sich von Russland
von Tobias Etzold, NTNU Trondheim
Nach der vorläufigen Suspendierung Russlands wegen des Kriegs in der Ukraine bedarf es einer neuen Definition, Ausrichtung und Legitimierung der regionalen Kooperation in der Arktis und im Ostseeraum.
Der völkerrechtswidrige Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 beeinflusst auch die Sicherheitslage und die regionale Zusammenarbeit in den an Russland angrenzenden Regionen Nordeuropas. Bereits die Annexion der Krim und der Krieg in der Ostukraine seit Februar 2014 hatten, als Zeichen einer immer aggressiveren russischen Außen- und Sicherheitspolitik, im Ostseeraum und in der Arktis deutliche Spuren hinterlassen. Nationale und regionale Sicherheit erhielt einen neuen höheren Stellenwert durch Aufrüstung und verstärkten militärischen Schulterschluss der westlichen Länder, zum Beispiel in Form von großangelegten NATO-Übungsmanövern in der Ostsee und im Hohen Norden. Dieser Schulterschluss umfasst auch die Nicht-NATO-Mitglieder Finnland und Schweden, die sich der NATO seit 2014 immer mehr annäherten und jetzt verstärkt einen Beitritt diskutieren. Die regionale Zusammenarbeit mit Russland, insbesondere im Ostseeraum, wurde in vielen Bereichen auf funktionale und technische Aspekte reduziert und verzichtete teils auf hochrangige politische Treffen. Erst in den letzten ca. fünf Jahren näherten sich Russland und die übrigen Staaten auf der regionalen Ebene politisch wieder stärker an, obwohl sich an der russischen Grundhaltung im Prinzip nichts geändert hat. Die Bedeutung einer Einbindung Russlands in die regionalen Strukturen zur Bewältigung gemeinsamer regionaler Herausforderungen und auch als symbolischer Wert schien schwerer zu wiegen als die dauerhafte Verurteilung des russischen Völkerrechtsbruchs.
Dies ist mit dem Krieg Russlands in der Ukraine jedoch vorläufig Geschichte. Die übrigen Mitglieder der zwischenstaatlichen und vieler transnationaler Organisationen in der Ostseeregion und der Arktis sowie der Nördlichen Dimension der Europäischen Union (EU), an der die Drittstaaten Island, Norwegen und Russland gleichberechtigt teilnehmen, haben Russlands Krieg scharf verurteilt. Seit Ende Februar suspendierten sie nach und nach die Mitgliedschaft Russlands oder russischer Akteure bzw. stellten jene einbeziehenden Aktivitäten und Sitzungen vorübergehend ein. Der Nordische Ministerrat, dem zwar nur die fünf nordischen Länder angehören, der aber punktuell mit Akteuren in Nordwestrussland und Kaliningrad zusammengearbeitet hat, fror sämtliche noch verbleibende Kooperationen mit Russland ein. Die Zusammenarbeit mit Belarus im Ostseeraum wurde ebenfalls ausgesetzt. Diese Maßnahmen sind notwendig und konsequent, haben ihrerseits aber direkte Implikationen für die regionale Zusammenarbeit in Nordeuropa.
Zusammenarbeit in der Arktis
Im vergangenen Jahrzehnt ist die Aufmerksamkeit für die Arktis im Kontext des Klimawandels, der Nachfrage nach – teils allerdings immer noch schwer zugänglichen – Rohstoffvorkommen aber auch aufgrund geopolitischer Spannungen zwischen den USA, Russland und China stark gewachsen. Trotz der Krimkrise ab 2014 und den wachsenden Ost-West-Spannungen konnte die weitgehend funktionale, pragmatische und wissenschaftlich geprägte Zusammenarbeit im zwischenstaatlichen Arktischen Rat, anders als im Ostseerat, inklusive hochrangiger Treffen auf Außenministerebene fortgesetzt werden. Bislang hielten sich Kooperation und Konflikt die Waage. Bisherige Spannungen kamen eher von außen als aus der Region selbst, auch wenn die Verteilung von Ressourcen, die Zuständigkeit für neue Schifffahrtswege sowie territoriale Ansprüche als potenzielle interne Herde für (Interessens-)Konflikte gelten.
Dem Arktischen Rat gehören mit Dänemark, Finnland, Island, Kanada, Norwegen, Russland, Schweden und den USA acht Staaten mit Land- und/oder Seegebieten in der arktischen Region an. Zu seinen Zielen und Aufgaben gehört, die Lebensbedingungen der Menschen in der Arktis zu verbessern, die arktische Umwelt zu schützen und die nachhaltige Entwicklung der Region zu fördern. Die Beschäftigung mit militärischer Sicherheit gehört seit seiner Gründung nicht zu den Aufgaben des Rates. Ein besonderes Merkmal des Arktischen Rates ist, dass die indigenen Völker der Arktis durch sechs Organisationen als ständige Teilnehmer, allerdings ohne eigenes Stimmrecht, eng in seine Arbeit eingebunden sind. Der 25. Geburtstag des 1996 gegründeten Rates wurde am 20. Mai 2021 in der isländischen Hauptstadt Reykjavik mit einem Treffen der Außenminister aller acht Mitgliedsstaaten begangen. Hierbei wurde ein langfristiger strategischer Aktionsplan verabschiedet, der die Schwerpunkte und Ziele für die Arbeit des Arktischen Rats von 2021 bis 2030 setzt. Dazu zählen Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel in der Arktis, intakte Ökosysteme und maritime Umwelt, nachhaltige soziale und wirtschaftliche Entwicklung und ein effektiver Rat.
Arktische sicherheitspolitische Herausforderungen
Obwohl das Reykjaviker Ratstreffen 2021 nach Spannungen bei vorhergehenden Treffen harmonisch und konstruktiv verlief, ließen sich bereits zu diesem Zeitpunkt etliche Störfaktoren nicht leugnen. Offiziell wurde die Bedeutung der Arktis als Region, die weitgehend von Stabilität, Frieden und konstruktiver Zusammenarbeit geprägt ist, sowie die Rolles des Arktischen Rates als Forum für Dialog und vertrauensbildende Maßnahmen zwar betont, auch von Russland. Doch im Vorfeld hatten russische Äußerungen Besorgnis ausgelöst. Außenminister Sergei Lawrow untermauerte Russlands territoriale Ansprüche in der Arktis und sprach von »unserem Territorium und Land«. Tatsächlich hat Russland viel in die Remilitarisierung seiner nach Ende des Kalten Kriegs zunächst militärisch vernachlässigten arktischen Regionen investiert, worauf die anderen Arktisanrainer ihrerseits mit einer Verstärkung ihrer arktischen militärischen Kapazitäten reagierten. In seiner jüngsten Arktisstrategie von 2020 kündigte Moskau an, dass es zur Not auch zu militärischen Mitteln greifen würde, um seine geopolitischen Interessen in der Arktis durchzusetzen. Manche Beobachter interpretierten diesen Passus sogar in Richtung einer möglichen Besetzung von Teilen Nordeuropas durch Russland. Im strategischen Denken Russlands steht die europäische Arktis neben dem Schwarzem Meer und der Ostsee in einer Linie von miteinander verbundenen, an den Westen angrenzenden Sicherheitsräumen. Der US-amerikanische Außenminister Antony Blinken sprach im Hinblick auf Lawrows Äußerungen von »ungesetzlichen maritimen Ansprüchen« Russlands (zum Beispiel in Form einer Regulierung internationaler Schiffsbewegungen durch russische Behörden), die nicht im Einklang mit internationalem Recht stünden. Er äußerte die Befürchtung, dass eine wachsende Militarisierung zu größeren Problemen führen könnte und das gemeinsame Ziel einer friedlichen und nachhaltigen Zukunft der Region unterläuft. Bislang war es bei der Demonstration von Macht geblieben (zum Beispiel der Verletzung von Luftraum- und Seegrenzen durch Kampfjets bzw. U-Boote), ohne dass es zu gezieltem Gebrauch von Gewalt gekommen wäre.
Doch vor dem aktuellen Hintergrund des Krieges in der Ukraine wächst die Sorge vor militärischen Zwischenfällen im arktischen Norden. Norwegens Außenministerin Anniken Huitfeldt bezeichnete Russland jüngst als instabilen, unvorhersehbaren, aggressiven und daher gefährlicheren Nachbarn, gegen den sich Norwegen durch Anpassungen seiner Sicherheitspolitik und verstärkte Achtsamkeit an der gemeinsamen Grenze wappnen müsse. Dennoch halten Experten momentan einen russischen Angriff auf die norwegische Grenze für wenig wahrscheinlich. Viele der im nahen Murmansk stationierten Truppen wurden Richtung Ukraine abgezogen. Es scheint, dass Russland weder den Willen noch ausreichend Kapazitäten für Angriffe an mehreren Fronten gleichzeitig hätte. Beobachter fürchten jedoch, dass es vermehrt zu Machtdemonstrationen in Form von Manövern, Luftraumverletzungen durch russische Kampfjets und gezielte Störmanöver kommen und das Risiko für unbeabsichtigte Eskalation durch Missverständnisse, Fehlkalkulationen, provokative Rhetorik und Fehler zunehmen könnte. Problematisch ist zudem, dass Russland Schweden und Finnland, zwei Partnerländern im Arktischen Rat und im Barents-Euro-Arktisrat, der regionale Kooperation mit dem Schwerpunkt auf nachhaltige Entwicklung am Rande der Barentssee fördert, mit direkten militärischen Konsequenzen gedroht hat, sollten diese der NATO beitreten wollen. Analysten zufolge kann es keine weitere arktische Zusammenarbeit mit Russland geben, solange dieses seine Drohungen gegen Finnland und Schweden aufrechterhält.
Optionen zur Fortsetzung arktischer Zusammenarbeit
Nach der Suspendierung sämtlicher offizieller Sitzungen müssen die übrigen Mitglieder des Arktischen Rats und des gleichermaßen betroffenen Barents-Euro-Arktisrats gründlich analysieren, wie sich trotz des geltenden Konsensusprinzips die Arbeit zumindest in den wichtigen teils wissenschaftlich-orientierten Arbeitsgruppen trotzdem auf weniger formale Weise fortsetzen lässt. Zwar wird Russland langfristig für konkrete Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel und dessen Milderung sowie zur nachhaltigen regionalen Entwicklung benötigt, doch darauf zu warten, bis eine Zusammenarbeit mit Russland wieder möglich ist und solange die Arbeit ganz einzustellen, hätte weitreichende negative Folgen für die Region. Dementsprechend müssten die Modalitäten im Arktischen Rat geändert werden, doch laut Experten könnten die bestehenden Regeln durchaus kreativ ausgelegt und angewandt werden. In diesem Kontext ist es hilfreich, dass der Arktische Rat keine intergouvernementale Organisation, sondern lediglich ein intergouvernementales Forum ist, das auf eine Erklärung und nicht auf einem Vertrag unter internationalem Recht gründet. Dies verschafft den neuen »Arktischen Sieben« eine gewisse Flexibilität. Gleichzeitig wird von ihnen jetzt ein starker Zusammenhalt verlangt.
Die fünf kleinen nordeuropäischen Arktisanrainer hatten bereits früher die Notwendigkeit und den Nutzen enger interner Kooperation und Koordination ihrer Arktispolitiken erkannt, um im Konzert der Großen einschließlich der aufstrebenden Arktismacht China bestehen zu können. Dem Arktisprogramm des Nordischen Ministerrats beispielsweise könnte unter den aktuellen Umständen neue Relevanz zukommen. Auch die adäquate Einbeziehung gleichgesinnter EU-Mitglieder außerhalb der arktischen Sphäre, wie Deutschland, wird bei der Lösung arktischer Herausforderungen wie Umwelt- und Klimaschutz und Anpassungen an den Klimawandel immer wichtiger. In diesem Kontext kann es hilfreich sein, dass die Europäische Kommission im vergangenen Herbst eine überarbeitete EU-Arktisstrategie vorgelegt hat. Diese trägt erstmals stärker den geopolitischen Veränderungen und Herausforderungen in der Arktis Rechnung und verspricht, entsprechende diplomatische Maßnahmen zu ergreifen, wie die Verbesserung ihrer strategischen Vorausschau in Bezug auf Sicherheitsrisiken und die Einrichtung eines Verbindungsbüros in Grönland. Außerdem will sie ihre Arktispolitik enger mit bestehenden politischen Schwerpunkten wie dem Grünen Deal verknüpfen. Auf diese Art werden Plattformen für die Zusammenarbeit in der europäischen Arktis etabliert, die zumindest ein gewisses Potential besitzen, auch ohne Russland konkrete Herausforderungen lösungsorientiert anzugehen.
Die Ostseeregion vor neuen Herausforderungen
Die Ostseezusammenarbeit trifft der vorübergehende Ausschluss Russlands an einer empfindlichen Stelle. Seit der großen Erweiterung der Europäischen Union um u.a. die baltischen Staaten und Polen 2004 war sie verstärkt darauf ausgerichtet, Strukturen zu schaffen und zu erhalten, um Russland und russische Akteure als gleichwertige Partner miteinzubinden und so das Land als einziges Nicht-EU-Mitglied unter den direkten Ostseeanrainern nicht zu isolieren. Auf Regierungsebene war dies insbesondere das Ziel des Ostseerates, dem neben Russland die fünf nordischen Länder, die drei baltischen Staaten, Polen, Deutschland und die EU angehören. Seitdem bezog der Rat einen großen Teil seiner Legitimation zum Fortbestand aus diesem Ziel, denn regionale Kooperation unter den EU-Mitgliedsstaaten wäre theoretisch auch in einem EU-Rahmen möglich gewesen. Möglicherweise war der Rat jedoch zu stark auf Russland ausgerichtet. Ab 2014 war dieses Ziel ins Wanken geraten, aber nicht gefallen. Nach einer Zwangspause fanden ab 2017 wieder Sitzungen der Außenminister statt. In der Folge wurde der Ostseerat reformiert und politisch gestärkt als nach wie vor wichtige regionale Brücke zwischen dem Osten und dem Westen.
Dass die Suspendierung Russlands ausgerechnet wenige Tage vor dem 30. Geburtstag des Ostseerates am 6. März erfolgen musste, ist eine besonders bittere Note der Geschichte. Die geplanten Feierlichkeiten wurden abgesagt. Die verbleibenden Mitglieder sehen keine Möglichkeit, die Zusammenarbeit mit Russland fortzusetzen und erklärten sogar, dass Russland unter diesen Umständen nicht länger die Vorteile seiner Beteiligung an der Zusammenarbeit »genießen« dürfe. Der Ausschluss Russlands wird so lange in Kraft bleiben, bis eine Wiederaufnahme der Zusammenarbeit auf Grundlage einer Achtung elementarer Grundsätze des Völkerrechts möglich ist. Die Meeresumweltorganisation Helsinkikommission (HELCOM) setzte alle offiziellen Sitzungen ihrer Organe und Treffen von Projektgruppen mit russischer Beteiligung bis zunächst Ende Juni 2022 aus. Die Ostseeparlamentarierkonferenz schloss russische Parlamentarier von all ihren Aktivitäten aus. Die transnationale Union der Ostseestädte (UBC), in der sich 69 Städte aus dem gesamten Ostseeraum zusammengeschlossen haben, suspendierte die beiden russischen Mitglieder St. Petersburg und Gatchina. Die Organisation der sub-regionalen Einheiten im Ostseeraum (Baltic Sea States Subregional Cooperation/BSSSC) suspendierte die Kaliningradoblast.
Neuausrichtung der Ostseekooperation
Dieser weitreichende vorläufige Ausschluss russischer Akteure aus den Kooperationsstrukturen heißt im Umkehrschluss, dass die regionale Zusammenarbeit im Ostseeraum neu ausgerichtet werden muss. Wie in der Arktis stehen die Ostseeakteure zunächst vor der Aufgabe, gründlich zu analysieren, in welchen Bereichen und in welchen Formaten eine weitere Zusammenarbeit auch ohne Russland möglich und sinnvoll ist und wo sich konkrete Ergebnisse erzielen lassen. Da der Ostseerat wie der Arktische Rat ein intergouvernementales Forum und formal keine Organisation unter internationalem Recht ist, lassen sich bestehende Regeln auch hier möglicherweise flexibel auslegen und kann der Rat seine Arbeit zumindest in den Arbeitsstrukturen fortsetzen. Generell unterschieden werden kann, zumindest in der Theorie, zwischen zum einen Bereichen, in denen Russland zur Entstehung von Herausforderungen beiträgt, wie Umwelt- und Meeresverschmutzung, Klimabelastung, Energieversorgung- und Sicherheit, zivile Sicherheit und organisierte Kriminalität, und in denen es daher auch bei der Bewältigung dieser Probleme benötigt wird sowie zum anderen Feldern, in denen die Zusammenarbeit primär dem Austausch, dem Lernen voneinander und der Schaffung von gemeinsamen Strukturen und Synergien gilt. In Bereichen wie Bildung, Wissenschaft, Kultur, Jugendaustausch und Arbeitsmarkt sollte es daher einfacher sein, die Zusammenarbeit ohne Russland und ohne schwerwiegenden Substanzverlust fortzusetzen. Die verbleibenden Akteure können dabei immer noch von ihrer Zusammenarbeit profitieren.
Ein im Juli 2020 erschienener Bericht für den Ostseerat stellte in zahlreichen Bereichen wie Umwelt- und Meeresschutz, maritime Wirtschaft, zivile Sicherheit und Digitalisierung großen Verbesserungs- und Entwicklungsbedarf sowie große Unterschiede insbesondere hinsichtlich sozio-ökonomischer Standards zwischen den Staaten im Osten der Ostsee insgesamt, also nicht nur Russland, und im Westen fest. Organisationen wie Ostseerat, BSSSC und UBC sollten daher nach wie vor durch Austausch und Lernprozesse dazu beitragen können, dass diese Unterschiede zwischen den nordischen Staaten und Deutschland einerseits und den baltischen Staaten und Polen andererseits geringer werden. Doch auch in erstgenannten Bereichen sollte mit etwas Improvisation unter den Kooperationswilligen ein Mindestmaß an Zusammenarbeit und Ergebnissen weiterhin möglich sein, zumal das russische Engagement und der russische Beitrag zur Lösungsfindung in vielen Fällen ohnehin überschaubar war. In diesem Fall ist weniger besser als nichts oder vielleicht sogar, optimistisch gedacht, weniger (Teilnehmende) mehr (Resultate).
Erschwerend für die regionale Zusammenarbeit kommt jedoch hinzu, dass diese bei den Regierungen vieler der verbleibenden Mitglieder keine große Priorität hat. Zu sehr ist man jetzt mit der nationalen und internationalen Anpassung an die neue Sicherheitslage, der Bewältigung des Flüchtlingsaufkommens aus der Ukraine, den wirtschaftlichen Folgen des Krieges und der Sanktionen gegen Russland beschäftigt und immer noch auch mit der Bewältigung der Coronakrise und all ihren wirtschaftlichen, politischen und sozialen Nebenwirkungen. Wie gründlich sich Deutschland unter den aktuellen Umständen mit seinem im Juli dieses Jahres beginnenden Vorsitzes im Ostseerat beschäftigen können wird, ist fraglich. Doch in enger Abstimmung mit dem aktuellen norwegischen Vorsitz sollte das Auswärtige Amt sein geplantes Programm zumindest so anpassen, dass es nahtlos an die Punkte, die Norwegen unter den aktuellen Umständen noch abarbeiten konnte, anknüpfen und auf diese Weise schnell eine tragfähige Grundlage für die neue Zusammenarbeit geschaffen werden kann.
In der aktuellen Situation könnte der makroregionalen Ostseestrategie der EU eine besondere Bedeutung bei der Fortführung einer halbwegs funktionierenden Ostseekooperation zukommen. Als internes EU-Projekt ist sie eines der wenigen regionalen Formate, in der Russland nicht als vollwertiger Teilnehmer, sondern lediglich als Partner an etlichen Projekten beteiligt ist, davon jetzt jedoch ebenfalls suspendiert wurde. Dass Russland bei der Gründung dieser europaweit ersten Makroregion 2009/2010 nicht vollumfänglich miteinbezogen wurde, hielten viele Akteure und Beobachter für einen großen Fehler und eine Diskriminierung Russlands, zumal in später ins Leben gerufenen Makroregionen wie dem Donauraum auch Drittstaaten voll beteiligt sind. Doch die EU-Mitglieder in der Ostseeregion waren daran interessiert, eine EU-interne regionale Struktur zu schaffen, in der sie ggf. unter EU-Recht weiter gehen können als in Kooperationsformaten mit russischer Beteiligung. Dies zahlt sich jetzt insofern aus, als dass zumindest ein Teil der regionalen Zusammenarbeit in dieser Situation ohne, von einigen Projekten abgesehen, notwendige Ausschlüsse und Improvisation fortgeführt werden kann. Im aktuellen Kontext könnte es daher sinnvoll sein, die Umsetzung und das Funktionieren der EU-Ostseestrategie zu verbessern und den makroregionalen Ansatz damit zu stärken.
Wege in die Zukunft in Ostseeraum und Arktis
Die Suspendierung russischer Akteure von den regionalen Kooperationsformaten im Ostsee- und Arktisraum war angesichts der Situation berechtigt und alternativlos, alles andere hätte einen empfindlichen Ansehensverlust für diese Plattformen bedeutet. Eine effektive Fortsetzung der regionalen Zusammenarbeit auch ohne Russland wird zwar nicht einfach, sollte sich aber mit etwas Fantasie und Improvisation durchaus bewerkstelligen lassen. Der tiefere Einschnitt wird darin bestehen, dass man sich jetzt endgültig von der wertebasierten Vorstellung einer regionalen Gemeinschaft mit einer gemeinsamen regionalen Identität inklusive Russland, wie insbesondere im Ostseeraum gerne propagiert wurde, verabschieden muss. Dennoch sollte zumindest der Versuch unternommen werden, neue Möglichkeiten, Formate und Kanäle für die weiterhin wichtige Einbindung der wenigen unabhängigen (Exil-)Vertreter der russischen Zivilgesellschaft zu schaffen und zu entwickeln. Die Arbeit in den arktischen Gremien zum Beispiel sollte auch weiterhin der Einbindung und dem Wohle der indigenen Völker der Arktis dienen, zu denen etliche im hohen Norden Russlands zählen, wobei die entsprechenden Verbände auf russischer Seite stark weisungsgebunden gegenüber dem Kreml sind. Hier ist daher dementsprechend Vorsicht und Differenzierung geboten. Die regionale Zusammenarbeit in Nordeuropa benötigt also neben einer neuen Definition, Ausrichtung und Legitimierung auch Fingerspitzengefühl, Flexibilität und einen langen Atem. Zu guter Letzt sollte die Tür für eine Rückkehr Russlands und seiner offiziellen Akteure in den Kreis der »Ostsee- und Arktisfamilien« einen Spalt geöffnet bleiben, für den Fall, dass Russland sich aus der Ukraine wieder zurückzieht und das derzeitige Regime von einer neuen demokratisch legitimierten Regierung ersetzt würde. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.