Der Fosen-Konflikt. Mehr als 700 Tage Kampf gegen Windmühlen

von NORDfor

Gastbeitrag von Paul Kirschstein

Im März und Oktober 2023 war das Stadtbild in Oslo von Demonstrierenden geprägt, in vorderster Reihe junge Saami in traditioneller Kleidung ‒ Bilder wie es sie zuletzt in Oslo vor rund 40 Jahren gab. Der »Fall Fosen« (Fosen-saken) prägt die politische Tagesordnung Norwegens seit Beginn des Jahres. Im Zentrum der Debatte stehen zwei Windparks, durch die die Ausübung der lokalen saamischen Rentierhaltung eingeschränkt wird. Der Fall zeigt die fortwährende Benachteiligung der Saami in realpolitischen Entscheidungsprozessen auf. Doch wie kam es zu diesem Interessenkonflikt?

98% der norwegischen Elektrizität wird bereits aus nicht-fossilen Quellen gewonnen, 90% der Gesamtelektrizität aus Wasserkraft eine augenscheinlich vorbildhafte Position im internationalen Vergleich. Doch der Ausbau weiterer Wasserkraft ist in vielen Regionen bereits ausgeschöpft und fast 400 Flussläufe haben in langen Verhandlungen zwischen 1973 und 2018 einen permanenten Naturschutzstatus erhalten. Um den stetig wachsenden Stromkonsum zu decken, wurde daher in den letzten 20 Jahren verstärkt auf Windkraft gesetzt.

Windkraft und Rentiere

Vor mehr als zehn Jahren wurden aus einer Handvoll möglicher Großprojekte für Windkraft zwei Standorte durch eine Regierungskommission ausgewählt und erhielten erhebliche Förderungen. Diese Windkraftanlagen sollten auf der Halbinsel Fosen, nördlich von Trondheim gebaut werden. Fosen gehört zum südlichen Teil des traditionellen saamischen Siedlungsgebietes (Südsaamisch: Saepmie, häufiger wird die nordsaamische Bezeichnung verwendet: Sápmi). Auf dieser Halbinsel haben Saami nachweislich seit dem späten Mittelalter Rentiere gehalten, welche zwischen Sommer- und Winterweideflächen wandern. Durch den Bau und Betrieb der gewaltigen Anlagen würden zentrale Winterweideflächen verloren gehen und es existieren auf der Halbinsel keine sinnvollen Ausweichoptionen. Die Turbinen stellen eine signifikante Lärmbelastung für die Rentiere dar, sodass diese die Weiden im Umkreis von bis zu 10 km um die Turbinen herum meiden. Auch während der Kalbungszeit stehen die Tiere unter zusätzlichem Stress. Zudem steigt durch das Wartungs- und Wegenetz die Gefahr von Unfällen im zuvor für Kraftfahrzeuge unzugänglichen Gelände. Kurz gesagt, die langfristige Weiterführung traditioneller Rentierhaltung auf Fosen würde durch die Windparks Storheia und Roan nachhaltig beeinträchtigt werden.

Trotz dieser bekannten Probleme wurden 2010 die ersten Baugenehmigungen erteilt. Nach ersten Einwänden durch Saami konnte zumindest der Projektumfang reduziert werden. 2016 wurden schriftliche Vereinbarungen mit den betroffenen rentierhaltenden Gemeinschaften (Südsaamisch: sijte, Nordsaamisch: siida) getroffen und finanzielle Erstattung versprochen, um weiteren Einwänden zuvorzukommen. 2019 wurden die Windkraftanlagen in Betrieb genommen ‒ insgesamt sind es 151 große Turbinen, mit einer Leistung von fast 2000 GWh/Jahr. Die beiden Windparks produzieren aktuell 20 Prozent der Windkraft Norwegens und Strom für umgerechnet rund 100.000 Haushalte. Somit war 2019 die unmittelbare Belastung für die Rentierhaltung zur Realität geworden. Eine ironische Dimension dieses Falls liegt darin, dass die Gerichtsprozesse und Revisionsklagen zwischen 2014 und 2021 durch die Eignerfirma Fosen Vind angestoßen wurden, mit dem Ziel, die Summe der finanziellen Entschädigungszahlungen festzulegen.

Übersicht der Windparks und Eigentumsverhältnisse
 Roan VindparkStorheia vindpark
Inbetriebnahme20182019
Turbinen7180
Jährliche Produktion884 GWh
entspricht dem jährlichen Konsum für
ca. 45.000 Haushalte
1000 GWh
entspricht dem jährlichen Konsum für ca. 50.000 Haushalte
EigentümerRoan Vind
(Aneo Roan Vind Holding* 60%,
Nordic Wind Power** 40%) 


* Ehemals TrønderEnergi, gehört zu 51% Aneo und 49% den Stadtwerken München.
Fosen Vind
(Statkraft 52,1%,
Nordic Wind Power** 40 %,
Aneo 7,9%)

**Nordic Wind Power gehört Energy Infrastructure Partners und Bern Kraftwerke.
BetreiberAneo HoldingStatkraft
vgl. Aneo Website

Die Prozesse endeten im Oktober 2021 mit einer Entscheidung des Obersten Gerichts (Norges Høyesterett), das feststellte, dass in der Lizenzvergabe nicht ausreichend Rücksicht auf die Rentierhaltung genommen wurde und nicht genügend ausgleichende Maßnahmen enthalten sind. Dadurch verstößt laut Gericht die aktuelle Lizenz gegen Artikel 27 des UN-Zivilpakts, der freie Kulturausübung zusichert. Bemerkenswert ist an dem Fall Fosen, dass auf den eindeutigen Gerichtsbeschluss mehr als 700 Tage politische Inaktivität folgten. In Norwegen sind das Parlament und die Regierung dafür verantwortlich, Konsequenzen aus Gerichtsurteilen zu ziehen und in Handlungen zu übersetzen. Die Proteste seit dem Frühjahr 2023 sollten die Aufmerksamkeit auf den bestehenden Missstand lenken und einen Rückbau der Windkraftanlagen erwirken.

Historische Wurzeln

Die systematische Unterdrückung der Saami hat eine lange Vorgeschichte. Zwei Perioden sollten in ihrer Relevanz für den Fall Fosen kurz skizziert werden:

Zum Ersten die Zeit der »Norwegisierungspolitik« (fornorskningspolitikk) seit Mitte des 19. Jahrhunderts, in der besonders in Schulen und Internaten eine Verdrängung der saamischen Kultur und Sprache angestrebt wurde. Die Bewältigung dieser einschneidenden Prozesse dauert bis in die Gegenwart an und manifestiert sich besonders deutlich in dem im Juni veröffentlichten Bericht der Wahrheits- und Versöhnungskommision (Sannhets- og Forsoningskommisjon). In diesem wird der staatliche Eingriff auf Fosen als eines der Hindernisse für die Aufarbeitung der Vergangenheit beschrieben.

Zum Zweiten haben die Aktivist_innen ein historisches Vorbild. In den 1970er und 1980er Jahren erschütterten ähnlich umfangreiche Proteste Norwegen. Damals protestieren Saami und Naturschutzaktivist_innen gegen den Bau eines gewaltigen Staudamms und Wasserkraftwerks an einem Fluss in der Provinz Finnmark, dem Alta-Kautokeinoelva. Nach 12 Jahren zäher Verhandlungen, begleitet von dramatischen Wendepunkten wie Hungerstreiks, Sitzblockaden und Polizeigroßeinsätzen entschied das Oberste Gericht 1982, dass der Staudamm dennoch gebaut werden darf. Die Ereignisse der 1970er Jahre wurden zuletzt im Spielfilm »Ellos Eatnu ‒ Let the River Flow« (2023, R: Ole Giæver) aufgegriffen. Im Film wird die Hauptrolle von der saamischen Sängerin und Aktivistin Ella Marie Hætta Isaksen gespielt, die auch in den diesjährigen Demonstrationen eine zentrale Figur war. Trotz der Niederlage vor Gericht 1982 konnten die Aktivist_innen auf die politisch prekäre Lage der Saami aufmerksam machen und es wurde unmissverständlicher Handlungsbedarf aufgezeigt. Nach der Gründung des norwegischen Saamiparlaments (Südsaamisch: Saemiedigkie; Nordsaamisch Sámediggi; Norwegisch: Sametinget) 1989 bestand die Hoffnung, dass weitere staatliche Eingriffe in Saepmie/Sápmi nur noch in Kooperation auf Augenhöhe umgesetzt werden würden.

Green Colonialism

Diese Hoffnung wurde jedoch mehrfach enttäuscht. Der Fall Fosen ist lediglich ein aktuelles, prominentes Beispiel von green colonialism: Minen am Repparfjord und im schwedischen Kiruna, die Arctic Railway oder Windkraftanlagen auf dem heiligen Berg Rásttigáisá, die Einschränkung der Rechte des finnischen Saamiparlaments, und noch viele weitere zählen auch dazu. Ella Marie Hætta Isaksen fasst das Dilemma zusammen: »Niemand übernimmt die Verantwortung, eine Übersicht der Landflächen im Norden zu führen. Wer bestimmt also wann wir die Belastungsgrenze erreicht haben? « (»Ingen tar ansvar for å føre et slags budsjett over arealene i nord. Hvem skal bestemme når vi har nådd tålegrensen?« Derfor må du vite at jeg er same. S. 132.)
Es scheint, als ob die Diskrepanz zwischen dem Gerichtsbeschluss im Oktober 2021 und der darauffolgenden politischen Inaktivität eine Grenze überschritten hat. Die zögerliche Haltung der Regierung und der verantwortlichen Ministerien führte zu einem großen Vertrauensverlust und beweist, dass ein langfristiges Umdenken notwendig geworden ist. Keine weiteren Projekte in Saepmie/Sápmi sollten ohne eine offene und sinnvolle saamische Beteiligung von Beginn der Planungsphase an möglich sein. Diese Form von Verfahrensgerechtigkeit (procedural justice) und gegenseitigem Vertrauen müssen jedoch zuerst langsam aufgebaut werden.

Die hier angerissenen Probleme sind keineswegs nur ein norwegisches Phänomen. In ganz Saepmie/Sápmi wurden über mehrere Generationen hinweg saamische Siedlungs-, Weide- und Migrationswege durch staatliche Energie- und Infrastrukturprojekte, wie Stauseen, Minen, Eisenbahnen, Straßen, u.a. eingeschränkt. Die politische Situation sowie die unmittelbaren Schwierigkeiten und auch die juristischen Handlungsspielräume der Saami in den nordeuropäischen Nationalstaaten unterscheiden sich zum Teil jedoch grundlegend. Zudem wird in der modernen Debatte immer wieder der Vorwurf einer positiven Diskriminierung laut. In diesem Zusammenhang liegt die meist unausgesprochene Annahme zugrunde, dass Saami nie mit der Modernisierung einverstanden seien und ihren Status als indigene Bevölkerung (urfolkargumentet) zum eigenen Vorteil ausspielten. Ganz im Gegenteil könnte indigenes Wissen dazu beitragen den Folgen des Klimawandels in der Arktis zu begegnen – zuerst müssen jedoch Projekte gestoppt werden, die zum wiederholten Mal saamische Rechte beschränken und natürliche Ressourcen ausbeuten.
Die Diskussion im Spannungsfeld zwischen Modernisierung und indigener Selbstbestimmung darf daher die Historizität der Unterdrückung nicht vernachlässigen, die in vielen Familien, in den saamischen Sprachen und in der gesamten Kultur tiefe Wunden hinterlassen hat. Der Bericht der Wahrheitskommision belegt dies eindrucksvoll. 

Weitere Entwicklungen

Auf internationaler Ebene hat die Performativität der Aktionen, wie bereits Ende der 1970er in dem Fall Alta (Alta-saken), Wirkung gezeigt: Fosen wurde in einer UN-Versammlung besprochen und die Proteste in Kataloge indigenen Widerstands aufgenommen. Die Regierung hat inzwischen eine offizielle Entschuldigung ausgesprochen und eine Vermittlungsinstanz (Riksmekleren) eingeschaltet. Da ein Abriss der Windparks von der Regierung kategorisch ausgeschlossen wurde, zog sich das Saamiparlament aus den Gesprächen zurück.

Die deutsche Medienlandschaft berichtete nur vereinzelt über den Gerichtsprozess und über die Demonstrationen. Möglicherweise erschienen die Forderungen der Rentiereigner_innen als geografisch und kulturell zu weit entfernt, die Probleme zu lokal im Vergleich zu den anderen Ereignissen, die Europa und die Welt erschüttern. Stellenweise wurde die Beteiligung einiger europäischer Energiekonzerne an den Windkraftparks, z.B. der Bern Kraftwerke, Credit Suisse oder der Stadtwerke München thematisiert. Letztere sind im März 2021, nach der Inbetriebnahme der Anlagen durch einen Aktienanteil von 29% Miteigner des Roan Windparks geworden.

Wie das existierende Problem im Fall Fosen gelöst werden kann und welche Konsequenzen die Ereignisse für die Zukunft haben werden, ist noch offen. Im Sommer folgten weitere Aktionen. Ende Juni blockierte eine Gruppe von Aktivist_innen eine Woche lang die Zufahrtswege der Windparks, bis schließlich die Polizei eingriff. Im August entschuldigte sich die Staatssekretärin in einer Fernsehdebatte für die Verzögerungen im Entscheidungsprozess, machte aber keine Eingeständnisse. Anfang Oktober, zwei Jahre nach dem Gerichtsbeschluss, wurden in Oslo die Eingänge der staatlichen Firma Statkraft blockiert, die einen der Windparks betreibt. Am 16. Oktober empfingen König Harald V. und Kronprinz Haakon eine saamische Delegation zur Audienz.

Es ist fast unmöglich abzusehen, was als Nächstes geschehen wird und welche Folgen die aktuellsten Ereignisse haben werden. Eines steht jedoch fest: Die fortlaufende strukturelle Benachteiligung der Saami als indigene Bevölkerung ist mit dem Rechtssystem und dem Selbstverständnis des norwegischen Staates nicht vereinbar. Es müssen grundlegende Veränderungen in der Teilhabe während der Planungsprozesse für alle beteiligten Bevölkerungsgruppen umgesetzt werden, um eine gerechtere Gesellschaft zu ermöglichen.

Paul Kirschstein ist PhD-fellow am Graduiertenkolleg 2560 »Baltic Peripeties« an der Universität Greifswald, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – 413881800.
Übersetzungen aus dem Norwegischen durch Paul Kirschstein.