- 30.04.2024
- Kategorie Kulturgeschichte
Die Karriere von Caspar David Friedrichs Rückenfiguren
Gastbeitrag von Walter Baumgartner
Die Norweger Andreas Aubert und, indirekt, Johan Christian Dahl spielten eine Rolle bei der Wiederentdeckung Caspar David Friedrichs um 1900. Eine Märchenillustration von Theodor Kittelsen von 1900 erinnert besonders stark an Friedrichs »Wanderer über dem Nebelmeer«. Auch zwei DDR-Bilder aus der langen Tradition von Rückenfiguren werden besprochen.
Rückenfiguren sind das Markenzeichen des Greifswalder Romantikers Caspar David Friedrich, dessen 250. Geburtstag dieses Jahr gefeiert wird. Die Ikone der Romantik schlechthin ist der »Wanderer über dem Nebelmeer«, 1817. Kaum zu glauben: Dieses Bild wurde zu Lebzeiten Friedrichs nie ausgestellt, auch nirgendwo erwähnt. Und Friedrich geriet nach seinem Tod 1840 in Vergessenheit. Der norwegische Kunsthistoriker Andreas Aubert fragte vorerst in Berlin und Dresden vergeblich nach den Bildern von Friedrich, dem Freund und Hausgenossen Johan Christian Dahls. Schließlich wurde er in Dresden fündig. In den 1890er Jahren bis zur sog. Jahrhundertausstellung in Berlin 1906 schrieb Aubert über Friedrich in deutschen Kunstzeitschriften und in seinen Monografien über Dahl und über Runge. Er löste Friedrichs Neuentdeckung und dessen triumphales Comeback aus.
Der heute so prominente ›Wanderer‹ tauchte erst 1930 in einer Berliner Kunsthandlung auf, 1970 kaufte die Hamburger Kunsthalle das Gemälde, 1974 war es dort die Hauptattraktion der Friedrich-Ausstellung. Ein in Norwegen sehr beliebtes Bild von Theodor Kittelsen weist auffällige Ähnlichkeiten auf mit Friedrichs ›Wanderer‹. Kittelsens Friedrich-Replik »Langt langt borte« (›Weit, weit weg‹) stammt aus dem Jahr 1900 und ist Teil einer Serie von Illustrationen zu Märchen aus der Sammlung von Asbjørnsen und Moe. Anstelle des städtisch elegant und für eine Klettertour völlig ungeeignet gekleideten ›Wanderers‹ steht in Kittelsens Bild ein einfacher Bauernjunge. Es ist der Märchenheld Askeladden, der vor einem vernebelten Tal steht, mit dem Rücken zu uns. Er schaut auf eine golden glitzernde Bergspitze im Hintergrund. ( Vgl. Walter Baumgartner: »Langt langt borte… syn eller utsikt? Kittelsen, J.C. Dahl og Caspar David Friedrich«, in BASAR. Litterært tidsskrift, 1/1978, S. 69–72. )
Den ›Wanderer‹ konnte damals niemand gekannt haben. Doch Kittelsen war mit Aubert befreundet, der ihm natürlich von seiner sensationellen Entdeckung in Dresden erzählt hat, und in seinen Schriften Rückenfiguren wie »Frau in der Morgensonne«, »Frau am Fenster«, »Mönch am Meer«, »Zwei Männer in Betrachtung des Mondes«, etc. beschrieben und abgebildet hatte. Von J.C. Dahl fand ich in der Nationalgalerie ein Archivfoto eines Bildes in Privatbesitz, das den Friedrich‘schen Rückenfiguren im Mondlicht gleicht und noch mehr dem »Wanderer auf Bergeshöh«, 1818, von Friedrichs und Dahls Freund Carl Gustav Carus und dessen »Hünengrab mit ruhendem Wanderer«, 1818 und 1819. Dahls Bild von 1823 heißt »Høyfjell i Maaneskin« (›Hochgebirge im Mondschein‹). Thomas Fearnley reiste 1829 nach Dresden, um bei Friedrich und Dahl zu studieren. In Italien malte er später »Terrasse bei Amalfi im Mondlicht« mit einer weiblichen Rückenfigur im Zentrum, und dann auch sich selbst als Rückenfigur vor der Staffelei am Strand von Amalfi. Es gibt von ihm mindestens noch zwei, wenn auch kleinere Rückenfiguren in norwegischen Landschaften.
Um die Jahrhundertwende 1900, als Aubert Friedrich promotete, gab es eine regelrechte Konjunktur der Rückenfigur in der Funktion, die sie bei Friedrich erstmals erhalten hat. Von Edvard Munch haben wir eine ganze Serie mit Lithografie-Varianten zum Thema »Die Einsamen«, mit einer männlichen und einer weiblichen Rückenfigur am Strand, mal mit, mal ohne Mond. Ebenfalls in den Neunzigern malte Christian Krohg »Oda und Per am Fenster« und dann also Kittelsen seinen Askeladden. In Dänemark findet sich die Rückenfigur u.a. bei Anna Ancher, Vilhelm Hammershøi, P.S. Krøyer und Harald Slott-Møller. Es geht darum, dass wir mit der Rückenfigur auf ein verlockend (halb-)verborgenes oder fernes Ziel schauen. Der Sinn wird beim »Wanderer über dem Nebelmeer« ein anderer sein als bei Kittelsens Askeladden (oder bei Fearnley oder Munch; bei Hammershøi ist es die reine Negation). Ja, der Sinn des »Originals« selbst wird beim späteren Betrachten immer wieder andere Gehalte erhalten, als Friedrich selbst sich vorgestellt haben mag; die Kontexte und Rahmenbedingungen der Wahrnehmung ändern sich, wie die Rezeptionsgeschichte zeigt. Im Erwartungshorizont zur Zeit der Entstehung von Friedrichs »Wanderer« kann das Bild einen naturreligiösen Sinn haben. Oder, wie auch vorgeschlagen worden ist: vor dem Hintergrund der Industrialisierung und Kapitalisierung sowie der gescheiterten Hoffnung auf Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit angesichts der Restauration wird die Metapher der Freiheit wachgehalten, jedoch mit ihrer Unerfüllbarkeit konfrontiert.
Kittelsen wählt das Querformat und postiert seine Figur nicht so monumental auf einem theatralischen Felsensockel wie Friedrich. Der Abgrund vor ihr ist nicht unüberwindlich. Beim Norweger geben die malerische Gestaltung sowie der Märchentext eine eher »horizontale«, sozioökonomische Sinnfüllung der Sehnsucht oder des Figurenprojekts vor: Der kleine Landproletarier sucht eine Prinzessin und das halbe Königreich; das bedeutet Erwachsenwerden, Heirat, Auskommen. Auch wenn es im Nebel liegt, wird der Junge das Tal durchqueren und die Prinzessin gewinnen. Die goldene Bergspitze erweist sich nämlich als das Schloss Soria Moria..
In vielen Bildern mit Rückenfigur(en) gibt es die gebrochene Utopie, die ambivalente Idylle, wie bei Friedrich. Aubert teilt in seinem Buch Maleren Johan Christian Dahl (1893) Notizen von Johan Christian Dahl über Friedrichs Kunst, in denen eine »gewisse Steifheit« seiner Bilder und eine »tragische Naturauffassung« konstatiert wird. Mit der »Steifheit« sind wohl die Betonung des ästhetischen Gemachtseins und der Montagecharakter gemeint. Laut Werner Hofmanns und Werner Buschs Essays im Katalog zur Essener Ausstellung von 2006 ist das eine Rezeptionslenkung, die Friedrichs Rückenfiguren und zusammengesetzte Landschaften vom Anspruch des illusionistischen Wiedererkennens freistellt und eine anspruchsvollere Sinnsuche von uns verlangt. Wir müssen gedanklich die Kluft im Bild-Mittelgrund und diejenige zwischen Sujet und malerischer Faktur überbrücken. Wo eine derartige Appellstruktur fehlt, erreichen die nunmehr schon inflationären Friedrich-Repliken, z.B. in der Tourismus-Werbung, nicht die Komplexität der Bilder Friedrichs. Die weibliche Rückenfigur, die als postmoderne ökologische Kunst in der diesjährigen Friedrich-Schau in Hamburg gezeigt wird, wirft einen Joghurtbecher in einen See – böse, böse!!
Zwei DDR-Kunstwerke sollen noch betrachtet werden, die auf ihre Art den Vergleich mit Friedrich nicht zu scheuen brauchen. Christoph Wetzels Replik, gemalt 1974, hat den Titel »Am Strand«. Das Bild zeigt vordergründig (im doppelten Wortsinn!) einen naturalistisch gemalten weiblichen Rückenakt. Man kann an Friedrichs »Wanderer« denken. Ein kunsthistorischer Kommentar lautet: Als Ort der Freiheit sei das Meeresufer für Badende und Sonnenanbeter, als frei zugängliche Staatsgrenze ein Ort potenzieller Fluchtversuche, eine Problemzone der DDR gewesen. Mit dem Rückenakt paraphrasiere Christoph Wetzel auf witzige Weise das romantische Motiv des Menschen, der sich der Unendlichkeit zuwendet. Als Vorbild wird der »Mönch am Meer« genannt. Diese von Wetzel zitierte Freiheitsmetaphorik sei damals nur von Kundigen bemerkt worden, so etwas wäre sonst nicht gern gesehen worden. Die sportlich wirkende Frau trainiert vielleicht für die Flucht von Hiddensee nach Møn, oder von Schlutup nach Weißenhäuser Strand. Das war ein Vorhaben, das an die 5.000 Menschen aus der DDR meist mit Gefängnis, ca. 500 von ihnen mit dem Ertrinkungstod bezahlten.
Wir bleiben in der DDR. Wolfgang Mattheuer hat surrealistische Bilder gemalt, die auf ambivalente oder sarkastische Weise die Sehnsucht nach Freiheit apostrophieren. Bei »Hinter den sieben Bergen«, gemalt 1973, ist der Bezug zu Friedrich vorerst nicht so deutlich. Die aufgerufene Freiheit ist hier konkret – mit dem Auto ist der Westen im Prinzip erreichbar, andere sind auch unterwegs. Der Weg ist aufdringlich (gleichzeitig kryptisch) ausgeschildert. Das Tal im Mittelgrund liegt nicht im Nebel, aber doch im Schatten! Der fiktive Standort des Malers ist wie beim »Wanderer« irgendwo in der Luft. Wir sehen dem Autofahrer im Vordergrund von hinten über die Schulter. Aber die Stasi ist ihm per Motorrad auf den Fersen, er hat sie im Rückspiegel. Und die Freiheit ist kapitalistisch banal. Die Freiheitsgöttin am Horizont wirbt mit bunten Luftballons wie bei der Eröffnung eines Autohauses. Da sind wir weit von jeder (romantischen) Utopie, direkt in der entfremdeten Warenwelt mit ihrer realen, aber pervertierten, brutal Metaphern-freien Liberalität! Der Verweis auf ein Märchen durch den Bildtitel ist – anders als bei Theodor Kittelsen – kein politisches Programm, sondern die Infragestellung der (westlichen) Freiheitsverwirklichung. Doch ebenso wahr: in die andere Richtung fährt nur ein einziges Auto… Nach der Wende hat Mattheuer eine eindeutigere Fortsetzung gemalt, ein Bild von Freiheit im Zeitalter der technischen Multiplizierbarkeit. Das neue Bild hat den Titel »Hinter den 7×7 Bergen«. Es ist eine Karikatur der westlichen Verheißungen: Vier Freiheitsgöttinnen mit Ballons schweben vom Zentrum bis an den Horizont einer zubetonierten, von Autos überfluteten Stadt am Meer. Caspar David Friedrichs fast etwas surrealistische Metapher der Freiheit machte mit Verzögerung Karriere. Sie provoziert uns bis heute. Ihr Potenzial bleibt produktiv für stets aktualisierte Sinnzuweisungen. Danke, Andreas Aubert!
Walter Baumgartner hatte von 1994 bis 2007 den Lehrstuhl für neuere skandinavische Literaturen an der Universität Greifswald und war viele Jahre Leiter des Festivals Nordischer Klang. Beim diesjährigen Festival wird er einen Vortrag zu Caspar David Friedrichs Rückenfiguren halten.