- 22.03.2020
- Kategorie Politik / Gesellschaft
Die Nationalisierung eines Virus
Am 14. März 1920, einem Sonntag, fand in dem Landesteil, der heute Südschleswig heißt, eine Volksabstimmung über die Zugehörigkeit zu Dänemark oder zu Deutschland statt. Das Ergebnis ergab eine Mehrheit für die noch heute gültige Grenzziehung. Dänemark und Deutschland trennt seither nach einer zum Teil kriegerischen Auseinandersetzung, die fast hundert Jahre angedauert hatte, eine demokratisch legitimierte Grenze. Sie wurde mit den Bonn-Kopenhagener Erklärungen von 1955, dann dem Schengen-Abkommen vom Dezember 1996 und dem Wegfall der Grenzkontrollen 2001 zu einer der unsichtbarsten und durchlässigsten Grenzen in Europa. Hier wurden im buchstäblichen Sinne die vier europäischen Freiheiten gelebt, die des freien Personen-, des freien Waren-, des freien Dienstleistungs- und des freien Kapitalverkehrs – in einem Land leben und konsumieren, im anderen arbeiten und einkaufen. Seit 2018 steht das deutsch-dänische Grenzgebiet auf der UNESCO-Liste des immateriellen Kulturerbes als „beispielhaft für ein friedliches Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen in Grenzgebieten“.
Ja, über das friedliche Zusammenleben kann man keinen Zweifel haben – an einer kooperativen Zusammenarbeit aber schon: Am Freitag, 13. März 2020 gegen 19 Uhr verkündete die dänische Regierung die Schließung der Grenzen für Nichtdänen ab Samstag, 14. März, 12 Uhr – auf den Tag genau einhundert Jahre nach der Volksabstimmung von 1920; die sozialdemokratische Regierungschefin Mette Frederiksen wurde zur „Oberbefehlshaberin“ bei der Pandemie-Bekämpfung. Es wurde nichts bekannt über eine Abstimmung mit den deutschen oder schwedischen Regierungen und Behörden. Wie von Donald Trump vorgegeben, ist die Coronavirus-Bedrohung der Grund: Das Virus wird als ausländische Invasion definiert, der man sich durch eine Grenzschließung erwehren könne und müsse, ein Virus wird nationalisiert. Da gemeinhin bekannt ist, dass das Virus sich längst in den Bevölkerungen verbreitet hat, sind sich die Experten einig, dass die Schließung der Grenze „null Effekt haben wird“, so die frühere Chefin des dänischen Gesundheitswesens; die schwedische Reaktion war diesbezüglich nahe am Entsetzen.[1] Die Maßnahme wegen des Virus‘ ist mithin so sinnvoll, wie der ebenfalls einseitig beschlossene dänische Wildschweinzaun gegen die Verbreitung der Afrikanischen Schweinepest. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier brachte es in seiner Ansprache an die Nation vom 16. März auf den Punkt: „Viren haben keine Staatsangehörigkeit“. Allerdings weist der sozialdemokratische Justizminister Nick Hækkerup den Vorhalt zurück, es handle sich um Symbolpolitik.
131 Ausländer an der Grenze abgewiesen
Unmittelbar nach der Ankündigung setzte ein Ansturm dänischer Käufer auf die deutschen Supermärkte, insbesondere in Flensburg ein, am späten Abend erschienen die ersten Bilder von leergeräumten Supermarkt-Regalen, das Interesse richtete sich insbesondere auf Bier, Wein, Spirituosen und Mineralwasser – ein Witzbold erlaubte sich den Scherz, dass man die privaten Vorräte jedenfalls bis Gründonnerstag auffüllen wolle, mit Sicherheit bezog sich das nicht auf das ebenfalls massiv nachgefragte Toilettenpapier (Gründonnerstag ist am 9. April, in Dänemark ein Feiertag und in diesem Jahr zugleich der 80. Jahrestag des deutschen Einmarsches in das Königreich). Die Zufahrts- und Einkaufsstraßen in Flensburg, an Samstagen regelmäßig wegen der Einkäufer aus Dänemark unpassierbar, waren leergefegt – am 14. März hat man 131 Ausländer an der Grenze abgewiesen.
Unter erheblichem, nicht zuletzt finanziellem Einsatz gedenkt die Stadt Flensburg der Abstimmung und der Geschichte der Grenzregion der letzten 100 Jahre: Im Museum auf dem Museumsberg, im Schifffahrtsmuseum am Hafen und in der Dänischen Zentralbibliothek wird eine Ausstellung „2020 – Perspektivwechsel. 100 Jahre Grenzgeschichten“ gezeigt. Die Eröffnungszeremonien, die am 13., 14. und 15. März stattfinden sollten, waren bereits im Vorfeld abgesagt worden; das Museum hatte am Abstimmungstag für knapp zwei Stunden geöffnet – seither und bis auf weiteres ist die Ausstellung geschlossen. Das Flensburger Tageblatt titelte: „Nur zwei Tage: Ausstellung über die Grenzgeschichte“.
Expertise der eigenen Virologen nicht in Betracht gezogen
Es dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass auch der 14. März 2020 in die deutsch-dänischen Geschichtsbücher eingehen wird – eine Grenzschließung auf den Tag genau einhundert Jahre nach der denkwürdigen Volksabstimmung zu eben dieser Grenze: Das hat schon eine besondere symbolpolitische Dimension. Die dänische Regierung hat offensichtlich die Expertise der eigenen Virologen nicht in Betracht gezogen – wir werden am Ende sehen, ob die Grenzschließungen etwas gebracht haben oder ob sie nicht vielmehr Ausfluss von Hilflosigkeit sind. Die Unfähigkeit, eine konsensuale europäische Virus-Abwehrstrategie zu finden, sollte man aber nicht „Brüssel“ anlasten, sie ist das Ergebnis nationalistischer Egozentrik. Man kann es auch mit den Worten eines der ersten Ausstellungsbesucher sagen, der bei der Frage, welche Funktion die Grenze für ihn habe, auf einen Zettel schrieb: „albernes Theater“.
[1] https://politiken.dk/indland/art7704505/Det-har-nul-effekt-p%C3%A5-smitten-i-Danmark-at-lukke-gr%C3%A6nsen-nu [16.03.2020].
Prof. em. Dr. Bernd Henningsen, Nordeuropa-Institut, Humboldt-Universität zu Berlin