- 16.07.2024
- Kategorie Politik / Gesellschaft
Ein Ende des Rechtsrucks? Die Europawahlen in Nordeuropa
von Tobias Etzold
Bei den Europawahlen hat sich in Nordeuropa der Rechtsruck gegen den europäischen Trend abgeschwächt. Das schlechte Abschneiden der Rechtspopulisten in Dänemark, Finnland und Schweden, für das es triftige Gründe gibt, ist allerdings nur eine Momentaufnahme. Der Einfluss der rechten Parteien auf nationaler und EU-Ebene bleibt groß.
Während bei den Wahlen zum Europäischen Parlament Anfang Juni 2024 in vielen europäischen Ländern, insbesondere Frankreich, Deutschland, Österreich und Belgien, rechtsnationale Parteien stark zulegen konnten, verloren diese in den EU-Mitgliedsstaaten Dänemark, Finnland und Schweden an Zustimmung. Stattdessen erhöhten linke und grüne Parteien ihre Stimmanteile teils deutlich, mit Themen wie Klima- und Umweltschutz, sozialer Gerechtigkeit, Rechtsstaatlichkeit und Stärkung der Demokratie. Ein erneuter Rechtsruck blieb damit aus. Schweden und Finnland waren jedoch erst bei den letzten nationalen Parlamentswahlen im September 2022 bzw. April 2023 deutlich nach rechts gerückt, als Schwedendemokraten und »Finnen« mit Stimmenanteilen von jeweils um die 20% zweitstärkste Kraft wurden. Die Schwedendemokraten sind seitdem Mehrheitsbeschaffer einer konservativ-liberalen Minderheitsregierung, die »Finnen« Teil einer rechts-konservativen Mehrheitsregierung. In Dänemark, wo sich der Rechtsruck bereits seit den nationalen Parlamentswahlen 2019 abgeschwächt hatte, verloren bei den Europawahlen die sozialdemokratischen und liberal-konservativen Regierungsparteien viele Stimmen, wovon die rechtsnationalen Kräfte anders als linke Parteien jedoch kaum profitieren konnten.
Die Europawahl kann als eine erste Abstimmung über die Arbeit dieser Regierungen, mit denen viele nicht zufrieden sind, gewertet werden. Allerdings war in allen drei Ländern die Wahlbeteiligung im Vergleich zu den nationalen Parlamentswahlen gering (Dänemark: 58,25 zu 84,1%; Finnland: 40,4 zu 72,7%; Schweden: 50,7 zu 84,2%; EU-weit: 51%, Deutschland: 64,8%). Den Europawahlen wird im Norden, wie in vielen europäischen Ländern auch, eine weitaus geringere Bedeutung zugeschrieben. Die Ergebnisse haben daher für die tatsächliche politische Stimmung nur eine begrenzte Aussagekraft.
Wahlergebnisse
In Schweden wurden die Sozialdemokraten mit 24,7% stärkste Kraft, sie verbuchten leichte Zugewinne gegenüber der letzten Europawahl 2019, aber Verluste im Vergleich zur nationalen Parlamentswahl im Herbst 2022. Gewinner der Wahlen waren die Grünen mit 13,8% und insbesondere die Linkspartei mit 11,1% aufgrund deutlicher Zugewinne sowohl im Vergleich zur letzten Europawahl als auch zur Parlamentswahl. Wahlverlierer waren die Schwedendemokraten mit 13,2% – ein Rückgang von 2,2% gegenüber den letzten Europawahlen und 7,3% gegenüber den nationalen Parlamentswahlen. Die regierenden konservativen Moderaten erhielten 17,5%, sie gewannen gegenüber der Europawahl 2019 nur geringfügig hinzu, verloren aber 2,6% im Vergleich zu den Parlamentswahlen 2022. Sie konnten also nicht von der Schwäche der Schwedendemokraten profitieren.
In Finnland wurde die regierende konservative Sammlungspartei von Ministerpräsident Petteri Orpo mit 24,8% stärkste Kraft mit einem Zugewinn von 4% gegenüber 2019. Überraschend auf Platz zwei kam die Linksallianz mit 17,3%. Einen Absturz auf 7,6% erlebten die rechtspopulistischen »Finnen«. Sie verloren 6,2% gegenüber 2019 und 12,5% gegenüber 2023.
In Dänemark verloren alle drei Regierungsparteien deutlich. Die Sozialdemokraten erhielten 15,6% gegenüber 21,5% bei der Europawahl 2019 und 27,5% bei den nationalen Parlamentswahlen 2022. Die liberal-konservative Venstre kam aktuell auf 14,7% (2019: 23,5%). Die Sozialistische Volkspartei wurde mit 17,4% stärkste Kraft. Die rechtsnationale Dänische Volkspartei erzielte nur noch 6,4% und verlor gegenüber 2019 4,4%. Die noch jungen ebenfalls rechten Dänemarkdemokraten kamen aus dem Stand auf 7,4%.
Ursachen
Die Gründe für die teils überraschenden Ergebnisse, die manche Umfragen vor der Wahl so nicht vorhergesehen hatten, sind vielfältig. In allen drei Ländern kann die Wahl, wenn auch mit Einschränkungen, als »Abrechnung« mit den erst seit kurz Kurzem amtierenden Regierungen gewertet werden. In Finnland waren viele Wähler_innen nicht einverstanden mit den Sozialreformen der bürgerlich-rechten Regierungskoalition, die das Streikrecht und die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall einschränkten und eine Kürzung der Arbeitslosenversicherung vorsahen. Dagegen wurde bereits im Winter massiv demonstriert, allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Zuletzt beschloss die Regierung noch eine Erhöhung der Umsatzsteuer um 1,5% zum 1. September 2024. Von der Unzufriedenheit über die Reformen profitierte die Linksallianz, die die Einschränkungen scharf kritisiert hatte. Deren Vorsitzende und Spitzenkandidatin Linn Andersson tat sich bei diesen und anderen Themen als besonders kompetent und überzeugend hervor. Der konservativen Sammlungspartei – bei Europawahlen traditionell stärkste Kraft – wurden diese Einschränkungen offenbar nicht angelastet. Dagegen schadeten sie den »Finnen« erheblich. Diese hatten sich in der Vergangenheit gerne als Vertreter der Arbeitnehmer_innen, der Landbevölkerung, der Schwachen und Abgehängten in Abgrenzung zu den gutverdienenden städtischen Eliten gezeigt. Im Gegensatz zu ihrer rechten Migrations-, Europa- und Gesellschaftspolitik befürworteten sie eine eher linke Sozialpolitik. Dass sie nun massiven Einschränkungen von Sozialleistungen und Arbeitnehmerrechten zustimmten, schadete ihrer Glaubwürdigkeit. In Schweden hat die von den Schwedendemokraten tolerierte Regierung trotz vollmundiger Ankündigungen die Probleme bei der Integration von Migranten sowie die überhandnehmende Bandenkriminalität bislang nicht in den Griff bekommen. In Dänemark war der Wahlausgang der generellen Unzufriedenheit mit der Regierung und ihren Leistungen geschuldet. Das Zusammengehen der Sozialdemokraten mit der liberal-konservativen Venstre und den Moderaten nach den Parlamentswahlen im November 2022 kam bei vielen sozialdemokratischen Wähler_innen nicht gut an, da dies eine konservativere und neoliberalere Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialpolitik mit sich brachte. Viele Wähler_innen, die sich eine sozialdemokratischere Politik wünschen, wählten die linksgrüne Sozialistische Volkspartei.
Hatten die nordeuropäischen Länder beim Klimaschutz innerhalb der EU lange eine Vorreiterrolle inne, so haben die aktuellen Regierungen insbesondere Finnlands und Schwedens den nationalen Klima- und Umweltschutz eher vernachlässigt, teilweise sogar zurückgefahren, zum Beispiel den Ausbau der erneuerbaren Energien. Auf europäischer Ebene gehören sie jetzt sogar zu den konservativen und rechten Kräften, die entsprechende Gesetzesvorhaben insbesondere im Kontext des »Grünen Deals« der EU stark verwässern, wenn nicht gar ablehnen, wie zum Beispiel die umstrittene Renaturierungsrichtlinie. Während andernorts in Europa, etwa in Deutschland und Frankreich, grüne Parteien und ihr Kernthema Klimaschutz bei den Wahlen stark an Zuspruch verloren, zeugt der Erfolg grüner und linker Parteien in Dänemark, Finnland und Schweden davon, dass Teile der Bevölkerung einen effektiven Klima- und Umweltschutz auf nationaler und europäischer Ebene, im Einklang mit der Forschung, weiterhin für wichtig erachten und sie diesen Parteien diesbezüglich größere Kompetenzen zuschreiben.
In Schweden deckte im Mai ein Fernsehmagazin eine Trollfabrik der Schwedendemokraten auf. Demnach wurden aus der Parteizentrale heraus anonyme Konten in diversen sozialen Medien gesteuert, die Propaganda, Diffamierung von Migranten und politischen Gegnern wie den Sozialdemokraten betrieben; auch wurden die politischen Verbündeten attackiert, obwohl in der Kooperationsvereinbarung zwei Jahre zuvor gelobt worden war, stets respektvoll über die Partner zu sprechen. Parteichef Jimmie Åkesson wurde nach der Wahl auch intern für seine offensichtlich nicht verfangende Strategie, die Enthüllungen als linksliberale Propaganda abzutun, kritisiert. Auch in Finnland hatten Politiker_innen der »Finnen« mit xenophoben Aussagen für Skandale gesorgt, die kurz nach Antritt der Regierung im Sommer 2023 bekanntgeworden waren.
Den Rechten in Finnland und Schweden gelang es zudem nicht, ihre Stammwähler zu mobilisieren. Die rechten Dauerbrenner-Themen – Einschränkung von Migration und Schließung der Grenzen – zogen dieses Mal aufgrund niedriger Zuzugszahlen nicht mehr richtig und gehörten für viele Wähler_innen, anders als der Klimaschutz, nicht mehr zu den wichtigsten Themen. Europaskeptische Parteien in kleinen Ländern haben mitunter auch Schwierigkeiten, ihre Wähler_innen davon zu überzeugen, ihre Stimmen für etwas abzugeben, was sie eigentlich zutiefst ablehnen – dass das Europäische Parlament Ausdruck vertiefter europäischer Zusammenarbeit und Integration ist. Das Argument, mit einem starken Aufgebot im Europäischen Parlament den Gedanken der europäischen Integration von innen auszuhöhlen, verfängt offenbar in kleinen Ländern nicht so sehr, wo Rechtspopulisten selbst bei einem guten bis sehr guten Ergebnis höchstens vier Abgeordnete ins Parlament entsenden können. Zwar gibt es in den nordeuropäischen Ländern auch bei linken und grünen Parteien EU-skeptische Tendenzen, für die Durchsetzung ihrer Kernthemen – effektiver Klima- und Umweltschutz – hat die europäische Ebene aber eine große Bedeutung, so dass es ihnen offenbar besser gelang, ihre Wähler_innen zu motivieren.
Fazit
Der Rechtsruck in den drei nordeuropäischen EU-Ländern hat sich durch die Europawahlen etwas abgeschwächt. Sie tragen nur wenig zum Erstarken der Rechten im Europäischen Parlament bei. Auf nationaler und damit auch auf zwischenstaatlicher EU-Ebene behalten rechtspopulistische Parteien aber, zumindest in Finnland und Schweden, ihren aktuell großen Einfluss, da sie über ihre Regierungen im Rat der EU weiterhin wichtige Vorhaben, zum Beispiel hinsichtlich Umwelt- und Klimaschutz, blockieren können. Umgekehrt haben die stärker gewordenen nordeuropäischen linken und grünen Parteien im Europäischen Parlament aufgrund ihrer den großen Verlusten in Deutschland und Frankreich geschuldeten kleiner gewordenen Fraktionen geringeren Einfluss. Auch zuhause ist ihr politischer Einfluss als kleine Oppositionsparteien begrenzt. Der Ausgang der Europawahlen ist daher lediglich eine Momentaufnahme. Die abschließende Bewertung der rechts-konservativen Regierung in Finnland und der bürgerlichen Regierung mit rechtsnationaler Tolerierung in Schweden wird erst bei den nationalen Parlamentswahlen im Frühjahr 2027 bzw. Herbst 2026 erfolgen, wenn die Wahlbeteiligung wieder höher sein wird.
Dennoch ist der Ausgang der Europawahlen als Warnschuss für die rechten und die bürgerlichen Parteien in Finnland und Schweden zu betrachten. Die Unterstützung für rechts-konservative Anliegen hat Grenzen, insbesondere, wenn Erfolge ausbleiben, die Regierungspolitik als Politik gegen arbeitende Menschen empfunden wird, wichtige Themen wie Klimaschutz vernachlässigt werden oder unfaires Verhalten gegen politische Gegner (wie Verbündete) publik wird. Konservativ-bürgerliche Parteien in Finnland und Schweden werden sich mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob ihre Entscheidung, nach den letzten Wahlen mit den Rechten zusammenzuarbeiten, statt große Koalitionen mit den Sozialdemokraten zu suchen, angesichts der umfassenden Probleme auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene die richtige war. Doch auch große Koalitionen funktionieren nicht ohne Weiteres und werden von den Wähler_innen nicht immer goutiert, wie Bürgerliche und Sozialdemokraten in Dänemark gerade erfahren. Die »Finnen« müssen nach ihrer ersten Regierungsbeteiligung zwischen 2015 und 2019 abermals erkennen, dass eine Regierungsbeteiligung eine Chance, aber auch ein Risiko für rechte Parteien sein kann. Sie müssen Verantwortung übernehmen und Kompromisse schließen, was Wähler_innen, die sich »klare Kante« wünschen, abschrecken kann. Umgekehrt kann den Schwedendemokraten, die mit dem Tolerierungsmodell die vermeintlich komfortablere Variante gewählt haben und als Unterstützerpartei zwar großen Einfluss auf die Politik haben, aber keine Verantwortung für deren Umsetzung übernehmen müssen, das Meiden politischer Verantwortung vorgeworfen werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich an den Problemen, die die Regierung mit ihrer Unterstützung lösen soll, nichts ändert. Auch dies kann auf Dauer Wählerzuspruch und politischen Einfluss kosten, wie die Dänische Volkspartei seit 2019 erfahren musste. Doch auch wenn die dänische Rechte inzwischen auf mehrere Parteien mit etwas unterschiedlichen Nuancen aufgeteilt ist, die in der Wählergunst jeweils nur im einstelligen Bereich liegen, beträgt das gesamte rechtsnationale Wählerpotential aktuell etwa 15% und kann in Zukunft wieder zum Machtfaktor werden, sollten die Parteien stärker zusammenarbeiten.
Die Mitte-Links-Parteien in der Opposition müssen stärker an politischen Alternativangeboten zur aktuellen Regierungspolitik arbeiten, insbesondere bezüglich einer nachhaltigen Sozial- und Wirtschaftspolitik im Einklang mit einer starken Klima- und Umweltpolitik sowie einer fairen Migrationspolitik, und deutlich machen, wofür sie stehen, um zu den Rechtspopulisten abgewanderte Wähler_innen langfristig wieder an sich zu binden. Der jüngste Erfolg der Grünen und der Linken in allen drei Ländern beruht mehr auf Stimmungen, denn auf konkreten politischen Leistungen. Den Sozialdemokraten in Finnland und Schweden muss zu denken geben, dass sie von der regierungskritischen Stimmung – anders als Grüne und Linksparteien – nicht oder nur wenig profitieren konnten. Ebenso wie für die regierenden dänischen Sozialdemokraten wird es für sie notwendig sein, wieder ihr sozialdemokratisches Profil zu schärfen, um sich von den anderen Parteien unterscheidbar zu machen. Erst dann, wenn sich im Mittelinks- oder im bürgerlichen Spektrum oder mit Parteien aus beiden Lagern wieder stabile Mehrheiten ohne Beteiligung der Rechtsaußenparteien bilden lassen, wird der Rechtsruck in Nordeuropa beendet sein.
Dr. Tobias Etzold ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Norwegischen Institut für Aussenpolitik/Norsk Utenrikspolitisk Institutt (NUPI) in Oslo und Redaktionsmitglied des NORDEUROPAforum.