Ein queerer Blick zurück: Die Retrospektive der 64. Nordischen Filmtage in Lübeck

von NORDfor

von Sabine Meyer

Wie präsent queere Charaktere in der Filmgeschichte sind, hat uns Vito Russo spätestens mit seinem Buch The Celluloid Closet (1981) vor Augen geführt. Doch auch vier Jahrzehnte später gibt es noch viel zu entdecken. Die queere Filmgeschichte Skandinaviens wird aktuell sowohl kinematographisch als auch akademisch neu beleuchtet und systematisiert. Die 64. Nordischen Filmtage in Lübeck leisteten durch die Retrospektive und das angedockte Film Studies Colloquium einen wichtigen Beitrag zu diesem Prozess und brachten nebenbei unterschätze Perlen auf die Leinwand.

Auch dieses Jahr konnten die Nordischen Filmtage sowohl in den kleinen und großen Lübecker Veranstaltungssälen als auch auf der nunmehr etablierten Streaming-Plattform des Festivals stattfinden. Fast 70 Prozent des Programms waren komfortabel von der heimischen Couch zugänglich. Ausgenommen davon blieb die diesjährige Retrospektive, deren Filmauswahl ausschließlich kollektiv im Kinosaal erlebbar war.

»Cross und Queer«

Mit dem Schwerpunkt »Cross und Queer« nahm der Kurator dieser Sparte, Jörg Schöning, sich in diesem Jahr der Aufgabe an, einen Blick auf geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der Geschichte des skandinavischen Kinos zu werfen. Unterstützt wurde Jörg Schöning vom Filmarchivar des Svenska Filminstitutet, Magnus Rosborn, weshalb die Retrospektive einen eher schwedischen Anstrich erhielt. So wurde auch der bereits im vergangenen Jahr in Lübeck aufgeführte Film Fördom och Stolthet – den svenska filmgarderoben (2021) erneut ins Programm genommen. Inspiriert von der auf Russos Buch basierenden Dokumentation The Celluloid Closet (1995) werden hierin die Spuren queerer Repräsentation seit Anbeginn des schwedischen Kinos nachgezeichnet, die sich an internationalen Bewegungen orientierten.

Gerade im noch frühen Kino der zwanziger und dreißiger Jahre sticht dabei die Vorliebe für das transvestitische Element ins Auge, sei es als vielfach lesbare Codierung oder Versuch einer befreienden Komik. In dieser Tradition lässt sich auch Hamlet (1921) lesen, dem die Dänin Asta Nielsen in dieser prominenten Hosenrolle Leben verleiht. Begleitet wurde die Aufführung dieser doch sehr freien cineastischen und fast parodistisch anmutenden Shakespeare-Interpretation durch Studierende der Musikhochschule Lübeck, die sich den Stoff musikalisch zu eigen machten.

Queere Charakterstudien

Die queeren Stoffe entfalteten sich auch in feinfühligen Charakterstudien. Gerahmt durch zentrale Filme von zwei der einflussreichsten skandinavischen Autorenfilmer, Carl Theodor Dreyers Michael (1924) und Ingmar Bergmans Persona (1966), lotete das Programm unterschiedliche Darstellungen homoemotionaler Beziehungen aus.

Die Retrospektive räumte Hasse Ekman, einem international weniger wahrgenommenen Filmemacher, mit zwei Filmen einen sehr prominenten Platz ein. Während sich dessen Komödie Fram för lilla Märta (1945) der bewährten Thematik des Kleidertausches annimmt, produzierte er mit Flicka och hyacinter (1950) einen intelligenten und ästhetisch herausragenden Film Noir mit einer überraschenden queeren Wendung zum Ende des Films: Alex, die rätselhafte große Liebe der Protagonistin Dagmar Brink, stellt sich in einem unscheinbar inszenierten Telefongespräch als Frau heraus; und nicht nur das, sie passt sich als augenfällige Femme Fatale auch in das Noir-Sujet ein, das durch die Strukturen ihres Begehrens gleichzeitig hinterfragt wird.

Cecilia: Eine deutsche Premiere

Norwegen kann ebenfalls mit einer überraschenden und einzigartigen Produktion aus den fünfziger Jahren aufwarten: Cecilia (1954). Es ist selten, dass Zuschauer_innen im Rahmen einer Retrospektive einer Premiere beiwohnen können. Doch hier gelang es den Nordischen Filmtagen, die deutsche Erstaufführung eines fast 70 Jahre alten Films zu präsentieren, der selbst vielen der anwesenden Filmwissenschaftler_innen nicht geläufig war. Die englischsprachigen Untertitel wurden live über das Bild gelegt und verliehen der Vorführung einen zusätzlichen performativen Charakter.

Cecilia, der einzige Spielfilm der Journalistin und Frauenrechtlerin Solvejg Eriksen, besticht durch seine Schilderung von Beziehungs-, Familien- und Gesellschaftsgeflechten sowie seine eindrückliche visuelle Ästhetik. Gleichzeitig verweisen harte Schnitte und eine oft unsaubere Montage auf die ökonomischen Restriktionen bei der Entstehung des Filmes. Die der Vorführung beiwohnende Hauptdarstellerin Anne-May Nielsen erinnerte lebhaft den Moment, wie sie als Vierzehnjährige von Eriksen unvermittelt in der Osloer Straßenbahn angesprochen wurde und so ihre erste Filmrolle bekam. Nielsens Mutter wurde prompt als Cecilias Mutter engagiert und gedreht wurde in der Wohnung der Großmutter. Schauspielerfahrung hatte niemand und die Regisseurin Eriksen schnitt den Film später selbst. Die vernichtenden Kritiken führten dazu, dass dies ihr erster und letzter Spielfilm sein sollte und Cecilia über Jahrzehnte aus der Wahrnehmung verschwand. Erst kürzlich ist er wieder in den Blick von Nachwuchswissenschaftler_innen geraten, die sich mit der Geschichte des queeren Kinos in Norwegen befassen.

Gegenwartsbezüge

Eine Retrospektive und deren Inhalte sind auch immer an gegenwärtige Entwicklungen gebunden. In Lübeck wird dies auf mehreren Ebenden deutlich. Durch das seit fast einem Jahrzehnt stattfindende Lübeck Film Studies Colloquium gibt es eine akademische Anbindung an das Filmprogramm und insbesondere an die Retrospektive. Zu letzterer gab es in diesem Jahr wieder ein eigenes Panel. Dieses Austauschformat trägt dazu bei, auch weniger fokussierte Filme und Themen neu zu diskutieren.

Zudem lädt die Verfasstheit der Filme selbst dazu ein, deren Inhalte zu vergleichen oder zu reevaluieren. So lässt sich der im Vorjahr in Lübeck vertretene biographische Film über Tove Jansson mit der in der diesjährigen Retrospektive gezeigten schwedisch-finnischen Produktion Afskedet (1981) zusammendenken. Basierend auf den Erinnerungen von Vivica Bandler wird eine queere Coming-of-Age-Geschichte erzählt, die sich im patriarchalen Korsett der dreißiger bis fünfziger Jahre entfaltet. Vier Jahrzehnte später wird Bandler in Tove (2020) selbst als wichtige Figur für das Begehren Janssons gezeichnet. Begehren und Identität sind zudem Themen, die einer kontinuierlichen Reevaluation unterliegen. So ist es kaum möglich, den in Lübeck gezeigten dokumentarisch angelegten Film Mera ur kärlekens språk (1970) ohne aktuelle Erkenntnisse aus den Queer Studies zu betrachten. Der aufklärerische-voyeuristische Tenor dieser Zeit räsoniert nur noch bedingt mit den aktuellen Diskursen.

Und so fungierte nicht zuletzt das Festival als wichtiger Rahmen für die Retrospektive. Gerade bei einem Schwerpunkt, der sich geschlechtlicher und sexueller Vielfalt annimmt, ist das Verhältnis von gegenwärtigem Kino und Filmgeschichte von ungemeiner Bedeutung.
Queere Themen zogen sich durch alle Sektionen und Genre des Programms. Die im Rahmen der Berlinale mit dem Teddy Award preisgekrönte Dokumentation Nelly & Nadine (2022) erzählt durch heutige Augen die Geschichte einer Liebe, die im KZ Ravensbrück begann, während der Episodenfilm Ingen kender dagen (2022) der dänischen Regisseurin Annette K. Olesen Missbrauch von Abhängigen thematisiert. August Joensalos Kurzfilm Space is Quite a Lot of Things (2021) lässt konventionelle Kategorien hinter sich und verbildlicht eine postgeschlechtliche, gar posthumane Welt.
Geschichte und Gegenwart bleiben somit immer im Austausch und bedingen einander. Die Einbettung einer queeren Retrospektive in die 64. Nordischen Filmtage hat diese Wechselbeziehung 2022 ausführlich illustriert.

Sabine Meyer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Skandinavische Literaturen der Universität Greifswald und Redaktionsmitglied des NORDEUROPAforum.

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