- 27.06.2012
- Kategorie Kulturgeschichte
Erinnerungskultur 2.0 · Das Projekt „digitalt fortalt“ in Norwegen
Im Netz machen sich neue digitale Erinnerungskulturen bemerkbar. So entstehen auch in Nordeuropa in letzter Zeit zunehmend WWW-Seiten, die sich die Web 2.0-Idee zunutze machen, um historische Erinnerung um persönliche Perspektiven anzureichern. Die Nutzerin, der Nutzer soll dezidiert die eigenen subjektiven Erfahrungen, die persönlich gefärbten Narrative mit einbringen. Ein Beispiel ist das Projekt digitalt fortalt [digital erzählt] in Norwegen.
Der Ursprung dieses Projektes liegt in dem so genannten Kulturminneåret [Jahr des kulturellen Erbes], das 2009 in Norwegen stattfand. Die norwegische Regierung wollte der Arbeit zur Bewahrung des nationalen kulturellen Erbes höhere Aufmerksamkeit zukommen lassen und lancierte daher dieses Kulturerbejahr. Im Mittelpunkt sollten vor allem alltagskulturelle Aspekte stehen, um so ein breiteres Verständnis von Kultur zu etablieren, das sich nicht auf eine elitäre Interpretation im Sinne von Hochkultur kapriziert. Zudem sollte so eine breitere Basis für die Mitwirkung von lokalen Akteuren und der Bevölkerung geschaffen werden. Ein Ziel war es nämlich, Menschen, die sich nicht professionell mit diesen Themen Erbe beschäftigen, neue Wege zur Partizipation an der Pflege des kulturellen Erbes zu eröffnen. So sollten bewusst auch einfach gehaltene Dokumentationen möglich werden, Initiativen für lokalhistorische Wikis ergriffen und dabei auf die längerfristige Etablierung entsprechender Webpräsenzen gesetzt. Eines der Ergebnisse dieses Prozesses ist die Seite digitalt fortalt, die sich mit einem kurzen Video (kurioserweise auf Englisch!) vorstellt:
Sehr interessant sind hier das Wortspiel im Englischen mit history und das Spiel mit den Klischees über professionelle Historiker. In den Selbstpositionierungen tauchen Begriffe wie fortelle, fortelling [erzählen, Erzählung] usw. häufig auf und verweisen somit auf einen stärker narrativen Zugriff auf Geschichte und kulturelle Erinnerung. Das weckt Assoziationen an die lange Tradition mündlicher Überlieferung, an die Zeit, als es noch stärker um Geschichten ging und man noch nicht unbedingt von Geschichte sprach. Entsteht hier also eine neue Form mündlicher oder verschriftlicht-mündlicher Geschichtsüberlieferung? Es geht allerdings nicht darum, ausschließlich nicht-professionelle Akteure einzubinden, sondern um ein Treffen aller „auf Augenhöhe“. Jede/r kann mitmachen, um seine digitale Erzählung beizutragen und unter den aktiven Nutzern sind etablierte Institutionen, die seit jeher in der Kulturvermittlung präsent sind, eben auch besonders produktiv.
Die medialen Formen, in denen die digitalen Kulturerbe-Erzählungen hochgeladen werden können, sind vielfältig und nutzen die multimedialen Möglichkeiten des WWW voll aus. Manches Video ist eher eine kommentierte Dia-Show, es gibt aber auch professionell anmutende Filme, Fotos, Audio-Dateien, alles Mögliche. Der Begriff des kulturellen Erbes ist hier eben auch recht breit angelegt, und lässt materielle Traditionen ebenso zu wie immaterielle Erinnerungsorte, z.B. Traditionen, selbst Erlebtes, kulturelle Praktiken etc.
User-generated content haben wir hier also, wobei eben wie gesagt die User sehr unterschiedlichen Hintergrund haben können: Der Fundus der norwegischen Nationalbibliothek ist nun mal ein anderer als der des „normalen Bürgers“. Was digitalt fortalt in kommunikativer Hinsicht zu einem echten Web 2.0-Projekt macht, ist die Einbindung von Kommentaren und Beliebtheitsstatistiken. Als Gast oder auch als User kann man Kommentare und Bewertungen in Form von Sternen vergeben. Auf der Startseite kann man dann die diesem Bewertungssystem gemäß populärsten Beiträge aufrufen, aber auch eine Liste der am häufigsten aufgerufenen Erzählungen und der zuletzt kommentierten. Eine interaktive Karte erlaubt auch die geographische Navigation zu den Einzelthemen. Den individuellen Beiträgen können weiterführende Links und auch Quellenmaterial zugeordnet werden, sie können kategorisiert und verschlagwortet werden. Insgesamt sind bisher 2074 Erzählungen hochgeladen worden.
Womit haben wir es hier nun zu tun? Mir scheint, dass wir anhand dieses Beispiels eine Wiederbelebung subjektiver Erinnerungen, persönlicher historischer Narrative als legitimen Zugang zu historischen Themen verzeichnen können. Die bestehenden Schranken – die Inhalte produzierenden professionellen Historiker hier, das konsumierende Publikum dort – fallen oder werden zumindest durchlässiger. Aber besteht durch die Engführung auf teilweise sehr persönliche Erfahrungen nicht die Gefahr, dass historische Prozesse hier banalisiert und in Einzelsplitter atomisiert werden? Da lugt doch möglicherweise neuer Positivismus um die Ecke…können Historikerinnen und Historiker sich für diese „Froschperspektive“ öffnen, nützt sie uns oder ist sie eher ein internetkulturelles Phänomen? Entstehen mit der digitalen Vermittlung des kulturellen Erbes nicht neue Chancen, mehr Menschen für Geschichte zu begeistern? Ist das nur eine „verdaubar“ gemachte Version von Geschichte, die man für die „eigentliche Geschichtsforschung“ getrost ignorieren kann?
Ich denke, man sollte diese Web 2.0-basierte Form von Erinnerungskultur ernstnehmen und z.B. die Möglichkeiten sehen, die sich für die Erforschung von historischer Erinnerung geben. Hier entsteht ein ganz neuer Fundus an Quellenmaterial, indem wir über die persönlichen Zugriffe zu historischen Inhalten möglicherweise auch die Rezeption historischer Ereignisse analysieren könnten. Zudem sollten Projekte wie dieses als Öffnung von Diskursen über Geschichte und kulturelle Erinnerung gedeutet werden. Das Web 2.0 hat ganz klar das Potenzial zur – etwas pathetisch gesagt – Demokratisierung von historischen Diskursen. Natürlich ist das etwas Anderes als eine geschichtswissenschaftlich fundierte Erforschung des jeweiligen Gegenstandes. Aber dass sich hier im Netz neue Geschichtskulturen etablieren – dafür ist dies nur ein Beispiel von vielen.
Von daher gilt es, mit den Worten der Projektbetreiber zu fragen: „Har du noe å fortelle – hast Du etwas zu erzählen?“