Finnland vor dem Rechtsruck

von NORDfor

Gastbeitrag von Joachim Bussian

Finnland hat am 2. April 2023 ein neues Parlament gewählt. Die bisherige Regierungskoalition aus fünf Parteien unter Ministerpräsidentin Sanna Marin (Sozialdemokraten) wurde abgewählt. Obwohl Marins Partei drei Mandate hinzugewonnen hat, haben drei der Koalitionäre (Zentrum, Linksbündnis, Grüne) 20 Mandate verloren. Nur die Schwedische Volkspartei RKP kam ungeschoren davon.

Wahlsieger wurde Petteri Orpo, Vorsitzender der Konservativen Sammlungspartei Kokoomus, gefolgt von den Basisfinnen (Perussuomalaiset), die zwei Mandate weniger erhielten. Sollten Kokoomus und die Basisfinnen koalieren, stünde Finnland vor einen massiven Rechtsruck. Andere Koalitionen sind zwar denkbar, aber eher unwahrscheinlich.

Das Wahlergebnis der Parlamentswahl 2023 im Einzelnen:

Partei%+/- in %Mandate+/-
Kansallinen Kokoomus / Samlingspartiet
 (Nationale Sammlungspartei)
20,8+3,848+10
Perussuomalaiset / Sannfinländarna
 (Basisfinnen)
20,1+2,646+7
Suomen Sosialidemokraattinen Puolue / Finlands Socialdemokratiska Parti
 (Sozialdemokratische Partei Finnlands)
19,9+2,243+3
Suomen Keskusta / Centern i Finland
 (Finnische Zentrumspartei)
11,3-2,523-8
Vihreä liitto / Gröna förbundet 
 (Der Grüne Bund)
7,0-4,513-7
Vasemmistoliitto / Vänsterförbundet 
 (Linksbündnis)
7,1-1,111-5
Svenska folkpartiet / Ruotsalainen kansanpuolue
 (Schwedische Volkspartei)
4,3-0,290
Kristillisdemokraatit / Kristdemokraterna 
 (Christdemokraten)
4,2+0,350
Liike nyt / Rörelse nu
 (Bewegung jetzt)
2,4+2,41+1
Sonstige0,5-2,41-1
Quelle: Finnisches Justizministerium

Die Wahlbeteiligung lag in diesem Jahr bei 71,9 Prozent, was einen Rückgang um 0,2 Prozentpunkte im Vergleich zur letzten Parlamentswahl bedeutet.

Überraschungen für Koalitionsparteien

Das Wahlergebnis hat für mehrere Parteien Überraschungen hervorgebracht: Die Sozialdemokraten landeten auf dem dritten Platz, obwohl sie prozentual zulegten und drei Mandate hinzugewonnen haben. Die Ursache dafür dürfte in der unglaublich großen Popularität von Marin liegen.
Das Zentrum war vor der vorletzten Legislaturperiode die führende und regional die vorherrschende Partei Finnlands. Vor vier Jahren war sie noch in vier der dreizehn Wahlbezirken die stärkste Partei. 2023 führte der Verlust von sieben Mandaten dazu, dass das Zentrum in keinem Wahlbezirk mehr stärkste Partei ist. Der Rückgang der Landwirtschaft und die unbefriedigende Beschäftigungslage im ländlichen Raum hat den Basisfinnen viele Wähler_innen zugeführt. Besonders schmerzlich war diese Entwicklung im Wahlbezirk Lappland, wo sich eine Kandidatin der Basisfinnen mit 11.153 Stimmen durchsetzen konnte und den früheren Abgeordneten des Zentrums aus dem Parlament verdrängte. Insgesamt hat das Zentrum in zwei Legislaturen die Anzahl seiner Mandate mehr als halbiert und damit auch die Parteifinanzen, was zu Einschnitten bei den Organisationsstrukturen der Parteizentrale und der Regionalgremien geführt hat.
Ähnliche Resultate mussten die Grünen akzeptieren. Vor vier Jahren waren sie in Helsinki und u.a. in Jyväskylä größte Partei bei den Parlaments- wie auch Kommunalwahlen. Den Grünen blieb in Helsinki jetzt nur ein kleiner Stadtbezirk; Kokoomus und Sozialdemokraten teilen sich die politische Macht in der Hauptstadt.
Das Linksbündnis mit der populären Vorsitzenden Li Andersson verlor absolut nur 1,1 % der Stimmen, musste aber aufgrund der Wahlmathematik fünf Mandate abgegeben.

Diese Verwerfungen haben nach Ostern bereits dazu geführt, dass die noch amtierende Ministerpräsidentin und SDP-Parteivorsitzende Sanna Marin angekündigt hat, beim kommenden Parteitag im Herbst nicht mehr für den Vorsitz zu kandidieren. Als Argument führte sie die enorme Belastung durch die beiden Krisen in der letzten Legislaturperiode an. Sie hatte das Amt erst im Dezember 2019 von dem damaligen Parteivorsitzenden und Ministerpräsidenten Antti Rinne übernommen, der es nach nur sechs Monaten wegen Vertrauensbruch im Amt verlor. Kaum hatte Sanna Marin es übernommen, erreichte die COVID-19-Krise Finnland, in der Folge fiel die Entscheidung, die gesamte Region Uusimaa (Südfinnland, mit Großregion Helsinki) vom Umland zu isolieren. Als diese Krise allmählich nachließ, erfolgte am 24.2.2022 der Angriff Russlands auf die Ukraine. Das Kabinett von Sanna Marin arbeitete sich praktisch von einer Krisenentscheidung zur nächsten, an normales Regieren war kaum zu denken.
Marin sagte, dass sie nun gerne ein »normales« Abgeordnetenmandat ausüben wollen würde. Allerdings wird vielseitig in den Medien spekuliert, dass Marin in absehbarer Zeit ihre Popularität dazu nutzten könne, ein internationales Mandat zu erwerben.

Am Dienstag nach Ostern erklärte die Parteivorsitzende der Grünen, Maria Ohisalo, sie werde beim Parteitag im Mai 2023 nicht mehr für den Vorsitz zur Verfügung stehen. Nach der massiven Wahlniederlage der Partei wird spekuliert, ob der gesamte Parteivorstand und Generalsekretär abgewählt werden.
Für die Grünen hat die Niederlage strukturelle Ursachen. Sie haben es noch immer nicht geschafft, in allen Wahlbezirken Mandate zu erringen; wichtig wäre vor allem ein Mandat in Lappland gewesen, allein um dem eigenen Anspruch zu genügen, in allen Politikfeldern in allen Regionen Wähler_innen überzeugen zu können. Es ist der Partei zudem nicht gelungen, die Ansprüche ihrer Wähler_innen zu bedienen und vor allem bei »grünen« Themen glaubwürdig aufzutreten. Dass die Grünen sich – zumindestens in Teilen, wie z.B. der Fraktionsvorsitzende Atte Harjanne in seinem Blog– im Zuge der Diskussion über die EU-Taxonomie positiv zur Kernenergie äußern, wurde nicht von allen Parteimitgliedern gutgeheißen. Verloren hat die Partei vor allem männliche Wähler, wie z.B. in Jyväskylä. Das Urgestein der Grünen, der frühere Abgeordnete Osmo Soininvaara analysiert in seinem Blog, der Partei sei es nicht gelungen, akademisch Ausgebildete in der Partei zu halten. Diese Wähler sind zur Konservativen Sammlungspartei gegangen.

Die Koalitionsalternativen

Vor den Parlamentswahlen haben bei öffentlichen Debatten die Sozialdemokraten, das Linksbündnis, die Grünen und die Vorsitzende der Schwedischen Volkspartei RKP, Anna Maija Henriksson, abgelehnt, mit den Basisfinnen zu koalieren. Sanna Marin brachte es in einer Diskussionsrunde auf den Punkt: »Die Basisfinnen vertreten vollkommen andere Werte als meine Partei!« Abgelehnt wird die Haltung der Basisfinnen zur Migration, zur EU und zum Euro, zur Entwicklungspolitik, zur Klimapolitik und schlussendlich zur Haushaltspolitik. 
In der Schwedischen Volkspartei ist die Haltung zu den Basisfinnen gespalten. Manche Abgeordnete, z.B. Joakim Strand aus Nordbottnien, preisen die gute Zusammenarbeit vor allem in der Wirtschaftspolitik.

Wie also könnte die nächste Koalition aussehen? Ministerpräsident wird der Vorsitzende von Kokoomus, Petteri Orpo, der eindeutige Wahlsieger, der Erfahrung für das Amt mitbringt: Er hatte bereits verschiedene Kabinettsposten inne, insbesondere in der Regierung Sipilä (ab 2016), in der er Finanzminister war. Er spricht aus Erfahrung, wenn er die sehr hohe Verschuldung Finnlands kritisiert und ankündigt, den finnischen Staatshaushalt bis 2030 schuldenfrei machen zu wollen.

Wie geht es weiter?

Am 13. April wurde das Parlament von Staatspräsident Sauli Niinistö feierlich eröffnet. Petteri Orpo wurde zum vorläufigen Parlamentspräsidenten gewählt, mit der Aufgabe, zwischen den Parteien koalitionsfähige Positionen zu sondieren.
Eine Liste von 24 Fragenkomplexen mit 49 Einzelfragen lagen den Parteien über das Wochenende vor. Die Antworten geben Aufschluss darüber, mit welchen Parteien Orpo eine Koalition und die Abfassung eines Koalitionsprogramms anstreben könnte.
Die Themen des Fragenkatalogs sind sehr umfangreich: Es geht von der Haushaltspolitik, dem Fachkräftemangel im Sozial- und Gesundheitswesen, über Klimaschutz bis zur Nato und EU. Die meisten Fragenkomplexe haben haushaltspolitische Implikationen. Orpo möchte mit seiner Partei in der kommenden Legislaturperiode sechs Milliarden Euro einsparen. Jetzt möchte er von den potenziellen Koalitionspartnern Antworten auf die Frage, wie sich die Parteien dieser Mammutaufgabe stellen wollen.
Orpos Partei muss zunächst entscheiden, ob sie mit den Basisfinnen oder den Sozialdemokraten regieren möchte. Die addierte Anzahl der jeweiligen Mandate mit 94 von 200 reicht aber nicht für eine parlamentarische Mehrheit aus. Als wahrscheinlichste Alternative gilt die bürgerliche Koalition aus Kokoomus und den Basisfinnen, ergänzt um die Schwedische Volkspartei und/oder die Christdemokraten.
Petteri Orpos Fragenkatalog war derart formuliert, dass die Koalitionsverhandlungen mit den Basisfinnen bequem fortgeführt werden können; allerdings muss er den Basisfinnen die Verpflichtung zu den EU-Themen und zu internationalen Menschenrechtsverträgen abverlangen. Orpos Fragen waren aber nicht so formuliert, dass die Basisfinnen von vornherein zu den Punkten, die möglicherweise potenzielle Koalitionspartner abschrecken könnten, aus taktischem Kalkül vorerst keine Aussagen machen mussten, wie z.B. zur Verschärfung des Einwanderungsrechts oder zum fossilneutralen Finnland im Jahr 2035.
Die Basisfinnen haben ein deutliches Interesse an einer Regierungsbeteiligung, unklar bleibt jedoch, zu welchen strukturellen Kompromissen sie bereit wären. Kokoomus und ihr Vorsitzender möchten sicherlich klare Aussagen im Koalitionsvertrag, denn die Fraktion ist so bunt gemischt, dass es schwierig sein wird, im Nachgang vertrauenswürdige Position einzufordern.
Die größte Differenz zwischen Kokoomus und den Basisfinnen zeigt sich in ihrer Einstellung zur Migration. Diese Frage spielt eine zentrale Rolle für das Wirtschaftswachstum und ist von immenser Bedeutung für die Unternehmerverbände. Die Vorsitzende der Basisfinnen Riikka Purra hat immer wieder betont, dass mit ihrer Partei in dieser Frage kein Kompromiss vorstellbar ist. Vor allem aus diesem Grund kann man nicht ausschließen, dass sich noch eine Koalition von Kokoomus und Sozialdemokraten ergeben könnte, obwohl in den öffentlichen Äußerungen die Positionen dieser beiden Parteien in der Steuer- und Finanzpolitik diametral auseinanderliegen.
Würden die Basisfinnen in die Opposition geraten, ist nicht auszuschließen, dass sie bei den nächsten Parlamentswahlen stärkste Partei werden – und das möchte eigentlich niemand, außer ihnen selbst, so der »Helsingin Sanomat« in einem Leitartikel am 15.4.2023.

Der Kokoomus-Vorsitzende ist nicht zu beneiden. Auch wenn die Haushaltspolitik und die Bekämpfung der Verschuldung wichtige Themen sind, können sie nicht ohne Berücksichtigung anderer Politikfelder wie Klimaschutz, Naturschutz, Migrationspolitik und Finnlands Position in der EU und der NATO erfolgen.
Wenn die Koalitionsverhandlungen, wie am 27.4. verkündet, am 2.5. im Ständehaus in Helsinki beginnen, wird erstmalig seit den 1930-er Jahren eine Regierung ohne Sozialdemokaten und/oder Zentrum abgestrebt. Allein in der Schwedischen Volkspartei RKP gab es Kritik: die Parlamentsfraktion hat nicht einstimmig für die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen gestimmt.
Helsingin Sanomat schreibt am 28.4. in seinem Leitartikel, die angestrebte Regierung werde wirtschaftspolitisch rechtsorientiert sein. Liberale Traditionen würden durch die Schwedische Volkspartei und Teile der Nationalen Sammlungspartei Kokoomus vertreten, die extrem rechten Positionen durch Basisfinnen und Christdemokraten. Aber vor allem: der Regierung fehle es an Visionen.
Die nächsten Wochen werden zeigen, in welche Richtung Finnland gehen wird. Ein Kabinett soll in den kommenden vier bis sechs Wochen stehen.

Joachim Bussian war bis Mitte 2020 Leiter des Pressereferats und des Sprachendienstes der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Helsinki. Er hat u.a. Finnische Sprache und Kultur studiert und lebt seit Ende der 70er Jahre in Finnland.