- 06.12.2011
- Kategorie Geschichte / Archäologie
Gedanken zum finnischen Unabhängigkeitstag
Preisfrage: Was fand am 6.12.1917 statt? Antwort: Es war wieder mal Tag des heiligen Nikolaus! Nun gut, auf einem Blog über nordeuropäische Geschichte wird man etwas anderes erwarten können…die Frage eignet sich allerdings (eigene Erfahrungen!) für einen kleinen Aha-Effekt unter den Studierenden im Seminar.
Was an dem Tag neben vielen anderen menschlichen Schicksalen auf der Welt geschah, und worüber ich heute hier natürlich schreiben möchte, war der eigentlich recht unerwartete Schritt Finnlands in die staatliche Unabhängigkeit. Was sich in der Nachbetrachtung oft als zielgerichteter Weg ausnahm, war eigentlich weder vom Zeitpunkt noch von der Vorgehensweise her wirklich geplant. Man würde den Bogen sicherlich überspannen, wenn man sagte, die Unabhängigkeit sei mehr über die Finnen gekommen als dass sie diese zielgerichtet angestrebt hätten. Aber allzuweit von der Wahrheit ist man damit auch nicht entfernt. Wie so oft ist es im Sinne der nationalen Geschichtsdeutung schlichtweg sehr praktisch, eine solche Zielgerichtetheit zu postulieren. Wie anders hätten die Finnen auch im Nachhinein, gerade im Angesicht der Herausforderungen, die der Zweite Weltkrieg für den damals noch blutjungen Nationalstaat mit sich brachte, behaupten können, das sei alles mehr oder minder Zufall gewesen?
Klar: Finnland hatte Startvorteile mit im Gepäck. Seit 1809 unter russischer Herrschaft, hatte sich das Großfürstentum (der Zar war in Personalunion Großfürst Finnlands) als „Proto-Staat“ entwickelt. Zentrale staatliche Institutionen und Verwaltungsprozeduren waren beim Schritt in die Souveränität bereits angelegt und erprobt. Man hatte über Jahrzehnte hinweg eine nationale ‚Identität‘ herausbilden können, sich zentrale Symbole wie ein Nationalepos, eine eigene Währung, ein eigenes Postwesen, zeitweilig sogar eine eigene Armee zulegen dürfen. Das alles eben immer unter der bis 1917 fortbestehenden russischen Obrigkeit. Einige wenige – sicherlich schmerzhafte – Jahre der so genannten ‚Russifizierung‘ genügten dann, um das Erbe dieser Zeit im Ganzen zu diskreditieren. Aus dieser Sicht war der Schritt in die Unabhängigkeit von 1917 mehr als logisch. Die Zeiten, in denen die Finnen dann die nationale Selbstständigkeit erlangten, waren dann aber alles andere als erfreulich: Krieg, Revolution und keine Garantie dafür, diese neue Unabhängigkeit bewahren zu können.
Finnland ist – das gilt es sich vor Augen zu halten – immer noch ein sehr junger Nationalstaat. Das 100. Jubiläum wird in einigen Jahren begangen. Wohl nicht zuletzt deswegen begehen die Finnen ihren Nationalfeiertag mit so großem Ernst – keine ausgelassenen Parties auf den Straßen, stattdessen Fackelumzüge, Kerzen in den Fenstern und gravitätische Reden. Typisches Ritual ist es, gemeinsam den Empfang im Präsidentenpalast am Fernseher zu verfolgen und zu verzeichnen, wer dieses Jahr in welcher Garderobe an der Staatspräsidentin entlang defiliert. In den vielen Ansprachen an diesem Tag – darauf hat z.B. der finnische Historiker Henrik Meinander hingewiesen – wird nur formal gesehen der Ereignisse von 1917 gedacht. Im Mittelpunkt steht der Dank an die Veteranen des Zweiten Weltkriegs (der in Finnland vielen Namen hat), die zwischen 1939 und 1944, so das offizielle Geschichtsbild, die 1917 errungene Selbstständigkeit verteidigten. Ihnen gilt an diesem Tag der größte Dank des Vaterlands. Somit könnte man berechtigterweise nachfragen, wo eigentlich die Erinnerung an den 6.12.1917 selbst ihren Ort hat? Vielleicht liegt hierin ein Teil der Erklärung dafür, dass man an diesem Tag über vieles schweigt, über das es sich zu reden lohnte – zum Beispiel den blutigen Bürgerkrieg, der 1918 folgte und der bis heute eine offene Wunde darstellt…