„Geschwistermeere“ – Ein Interview mit Olaf Mörke zu seiner neuen Geschichte des Nord- und Ostseeraums

von NordicHistoryBlog

Unlängst veröffentlichte Olaf Mörke, Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, im Kohlhammer-Verlag eine Geschichte des Nord- und Ostseeraumes. Das Werk trägt einen Titel, der neugierig macht: „Die Geschwistermeere“ – was steckt dahinter? Geschichtswerke zum Ostseeraum gibt es so einige, zum historischen Raum Nordsee indes gar nicht so sehr viele (allzumal aktuelle) – nun wendet sich Mörke beiden maritimen Gebieten mit einem integrierten Ansatz zu, der Interesse erregt.

Beiden historischen Räumen hat sich Olaf Mörke im Laufe seiner wissenschaftlichen Laufbahn immer wieder gewidmet. Wir wollten mehr über Idee und Anliegen des Autors wissen und haben ihn zu den „Geschwistermeeren“ interviewt. Die Fragen stellte Jan Hecker-Stampehl.


Verwendung mit freundlicher Genehmigung des Kohlhammer-Verlags

Verwendung mit freundlicher Genehmigung des Kohlhammer-Verlags

NordicHistoryBlog: Herr Mörke, der Titel Ihrer Geschichte des Nord- und Ostseeraumes — „Geschwistermeere“ — hat ja eine recht emotionale Färbung. Wie kamen Sie auf den Begriff?

Olaf Mörke: Die Idee kam spontan auf dem Fahrrad in der schottischen Universitätsstadt St. Andrews. Der Titel mag emotional gefärbt sein, er hat durchaus mit meiner persönlichen Verbundenheit mit den Küstenlandschaften an Nord- und Ostsee zu tun. Schließlich lebe ich seit zwei Jahrzehnten in Kiel, habe längere Zeit in den Niederlanden und Großbritannien verbracht. Gleichwohl halte ich ihn für inhaltlich sinnvoll.

Nord- und Ostseeraum gemeinsam in den Blick zu nehmen, stand keineswegs am Anfang meiner Überlegungen. Es ging mir zunächst um ‚meine’ Region, die Cimbrische Halbinsel, und ihren Platz an der Ostsee. Je mehr ich mich eingearbeitet hatte, desto deutlicher wurden mir jedoch die materiellen und ideellen Verbindungen zwischen Nord- und Ostseeregion und vor allem die wichtige Relaisfunktion jener Gegend von der Cimbrischen Halbinsel bis zum Sund. Die Geschwistermetapher finde ich dann gar nicht mehr emotional, sondern höchst rational, wenn man einerseits die Vielfalt der Gemeinsamkeiten und die Komplexität der Beziehungen zwischen beiden Teilregionen bedenkt und wenn man andererseits aber auch sieht, dass Geschwister nun einmal eigenständige Individuen sind. Diesen Spannungsbogen zwischen Gemeinsamem und Trennendem galt es in Grundzügen zu erfassen.

NHB: Kann man mit einer integrierten Geschichte zweier maritimer Räume beiden überhaupt gerecht werden? Wo lagen hier die besonderen Herausforderungen für Sie?

Mörke: Zunächst einmal lag die Herausforderung darin, meine inhaltlichen Vorstellungen mit der Umfangsvorgabe der Reihe (100.000 Wörter!) zu vereinbaren. Das erforderte die Beschränkung auf das für mein inhaltliches Konzept Wesentliche. Dabei blieben Details auf der Strecke. Leicht hätte ich den doppelten Umfang füllen können. Die Vorgabe der 100.000 Wörter wirkte indes disziplinierend, als ich mich ständig fragen musste, was ist zwingend notwendig, um mein Anliegen deutlich zu machen. Dieses Anliegen hatte sich seit der Ursprungsidee in der Auseinandersetzung zwischen den systematisierenden Grundannahmen und den historischen Befunden ständig fortentwickelt. Der Zusammenhang von Schreiben und Denken ist mir dabei einmal mehr sinnfällig geworden.

Das wird meines Erachtens deutlich bei den langfristig wirkenden Identitätsmustern, die neben anderen den Raum der Geschwistermeere sowohl inkludierend als auch exkludierend konturierten und konturieren. Die Herausbildung von Nördlichkeitskonzepten in Selbst- und Fremdwahrnehmung von der Antike bis heute als etwas, was neben anderen Faktoren der Konnektivität entscheidend in Bezug auf die Raumbildung zwischen Island und dem Finnischen Meerbusen wirksam wurde, ist mir in ihrer Oszillation zwischen Überlegenheits- und Freiheitsideen so recht erst während des Schreibens deutlich geworden. Ebenfalls jene eng damit zusammenhängende kulturelle Trennungslinie, die in den jeweiligen Wahrnehmungsmustern von Klaudios Ptolemaios bis in die Gegenwart mit wechselnder Ost-West-Verschiebung durch den Ostseeraum lief und läuft.

NHB: Vor einigen Jahren wurde versucht, den Begriff der Thalassokratie zu lancieren, um eine stärkere geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit „Seeherrschaften“ anzustoßen. ((Es gab z.B. eine entsprechende Sektion auf dem Berliner Historikertag 2010.)) Taugt das Konzept aus Ihrer Sicht für maritime Geschichtsräume?

Mörke: Als Idealtyp im Weber’schen Sinn taugt der Begriff allemal. Trotzdem habe ich ihn aus gutem Grund nicht verwendet. Meines Erachtens ist das Risiko ziemlich groß, den Begriff zu überdehnen und alle diejenigen Mächte als Thalassokratie zu markieren, die als Seefahrtsmächte in Erscheinung getreten sind. Das stiftet dann mehr Verwirrung als Klarheit. Beschränkt man sich darauf, unter einer Thalassokratie solche Herrschaftsformen zu verstehen, die „sich spezifisch auf die Beherrschung der See gründeten“, dann trifft das auf eine doch allenfalls sehr begrenzte Zahl von vorstaatlichen oder staatlichen Formationen zu. Auf die in diesem Zusammenhang hin und wieder strapazierte Hanse bestimmt nicht. Auch nicht auf Großbritannien, selbst wenn das patriotische Lied „Rule, Britannia! Britannia rule the waves“ aus dem 18. Jahrhundert so etwas suggerieren mag.

Man muss sehr genau hinschauen, um den Begriff wirklich erkenntnisträchtig fruchtbar zu machen. Das kann man! Im von mir gewählten Darstellungsformat hätte er aufgrund der auf den ersten Blick so großen Eingängigkeit für die Erklärung von allem, was mit dem Meer als „Kontaktarena“ zu tun hat, der auf den zweiten Blick jedoch meines Erachtens viel eingeschränkteren Erkenntnisreichweite diese Fruchtbarkeit nicht entfalten können.

NHB: Konstruktionen des Nordens und von Nördlichkeit, Ursprungslegenden und Geschichts- und Nationenbilder spielen für Ihre Darstellung eine wichtige Rolle — nicht zum ersten Mal in Ihrer Autorschaft. Wie äußert sich das in Ihrem Blick auf den Geschichtsraum Nord- und Ostsee?

Mörke: Das habe ich in meiner Antwort auf Ihre zweite Frage teilweise schon behandelt. Die Themenkomplexe Nördlichkeit, Geschichtsbilder etc. treiben mich in der Tat um. Ich halte die Auseinandersetzung damit im Rahmen einer europäischen, nicht nur der nordeuropäischen Transfergeschichte noch lange nicht für ausgeschöpft. Angesichts aktueller politischer Entwicklungen in den europäischen Nord-Süd- und Ost-West-Verhältnissen, in denen gerade wieder Geschichtsbilder und Abgrenzungsstereotypen mit explizitem oder implizitem Nordbezug eine fatale Wirkung entfalten, ist sie vielmehr dringend geboten. Das zeigt sich nicht nur in der Debatte um die Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union oder in der Diskussion um Griechenland, wo munter von allen Beteiligten mit inkludierenden und exkludierenden Geschichtserzählungen entlang der Windrose gewerkelt oder besser: gezündelt wird, die eine lange Tradition haben. Das zeigt sich auch im Alltäglichen, wenn etwa der neue Werbeslogan Schleswig-Holsteins suggeriert, man sei „der echte Norden“, wobei „Norden“ natürlich positiv besetzt ist. Spätestens, wenn man sich Schleswig-Holstein von Jütland nähert, sollte einem die Absurdität des Werbespruchs deutlich werden. Ich hoffe, dass mein Buch dazu beiträgt, einen kritischen Blick auf solche Denkmuster und ihre Wirkungsräume zu richten.

NHB: Wie sehen Sie den Stellenwert der Nord- und Ostseegeschichte in der deutschen Geschichtswissenschaft? Wollen Sie mit Ihrem Werk auch ein Signal setzen?

Mörke: Es gibt natürlich historiographische Traditionen, in denen das, was um und auf den beiden Meeren geschah, eine wesentliche Rolle spielt. Dafür stehen die Hansegeschichte und an einigen Universitäten – bei Ihnen in Berlin, hier in Kiel, in Greifswald und andernorts – die Nordeuropäische Geschichte. Das Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität ist aber meines Wissens das einzige deutsche Universitätsinstitut, das den Blick auf den Raum von Island bis Russland richtet und dabei die Disziplingrenzen zwischen Nord- und Osteuropäischer Geschichte ankratzt. Die Britischen Inseln und die Niederlande fallen dabei freilich auch aus. Meines Erachtens gehören sie aber dazu, wenn man eine integrierte Geschichte von Nord- und Ostseeraum erforschen möchte – und das nicht in einer Nebenrolle. Die integrierte Raumgeschichte von Nord- und Ostsee bindet eine Fülle von Regionalhistorien zusammen, die ich natürlich nicht gleichwertig abdecken kann. Ich habe gleichwohl versucht, die zahlreichen bereits existierenden Einzelforschungen unter den systematischen Gesichtspunkten einer Kontakt- und Transfergeschichte mit einem weit gespannten kulturhistorischen Interesse, das Wirtschafts- und Politikgeschichte einbezieht, zusammenzuführen und vielleicht die eine oder andere Forschungsperspektive anzuregen. Das Schlagwort von Einheit und Vielfalt eines Raumes wird hoffentlich an dem von mir gewählten Beispiel nachvollziehbar mit Inhalt gefüllt. Wenn das als Signal angesehen werden sollte, hätte ich bestimmt nichts dagegen.

NHB: Herr Mörke, vielen Dank für das Interview!

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