Hohe Jugendarbeitslosigkeit im Norden – Zahlen lügen nicht?

von Sven Jochem

Arbeitslosigkeit ist eine der größten Herausforderungen für Gesellschaft und Politik sowie selbstverständlich für die von Arbeitslosigkeit betroffenen Frauen und Männer. Wie eine jüngste Erhebung und Analyse der OECD aber auch zeigt, sind zwei Formen der Arbeitslosigkeit von besonderer Dringlichkeit: Die Langzeitarbeitslosigkeit sowie die Jugendarbeitslosigkeit. Warum, so fragen sich viele Beobachter_innen, ist die Jugendarbeitslosigkeit in Schweden und Finnland so hoch? Warum schaffen es Wirtschaft und Politik in diesen Ländern mit ihren insgesamt guten Arbeitsmarktleistungen nicht, den Jugendlichen einen reibungsloseren Zugang zum Erwerbsleben und zur Erwerbskarriere zu ermöglichen? Warum sind gerade die Jugendlichen in den beiden Ländern die soziale Gruppe, auf deren Schultern die Kosten des spezifisch nordischen Arbeitsmarktregimes abgeladen werden?

Langzeitarbeitslosigkeit ist kein nordisches Problem. Langzeitarbeitslos sind Menschen, die länger als ein Jahr ohne Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt sind (und zwar nach den Kriterien der nationalen sowie internationalen statistischen Ämter). Wer lange vom ersten Arbeitsmarkt entkoppelt ist gerät in Gefahr, in die Armut zu rutschen und vor allem keinen Anschluss mehr an die aktive Gesellschaft zu finden. Diese Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft ist im Norden im internationalen Vergleich sehr gering. Sehr hoch ist die ausgewiesene Langzeitarbeitslosigkeit hingegen in Kontinentaleuropa und Osteuropa. Vor allem die überdurchschnittlich hohen Werte für Deutschland zeigen, dass fast die Hälfte aller Arbeitslosen in Deutschland Probleme hat, wieder rasch Kontakt zum ersten Arbeitsmarkt zu bekommen und so über regelmäßiges Einkommen jenseits staatlicher Transferleistungen zu verfügen.

Arbeitslose Jugendliche im Alterssegment von 15 bis 24 Jahre sind in Deutschland hingegen kein statistisch ausgewiesenes Problem. Der Wert von nur 7,8 Prozent Jugendarbeitslosigkeit für 2014 ist nach Japan (6,8 Prozent) weltweit Spitze. Auf der anderen Seite der Skala rangieren die südeuropäischen Krisenländer wie Griechenland oder Spanien, wo über die Hälfte dieser Alterskohorte vom Problem der Arbeitslosigkeit betroffen ist – und in diesen Ländern sind die Klagen über eine „verlorene Generation“ aufgrund der Finanz- und Wirtschaftskrise nach 2007 und der daraus resultierenden europäischen Schulden- und Eurokrise sehr laut zu vernehmen. Es überrascht jedoch viele Beobchter_innen, dass für den Norden zum Teil deutlich überdurchschnittliche Werte registriert werden. Während der Durchschnitt für alle OECD Länder bei 15 Prozent offener Jugendarbeitslosigkeit liegt, sind die Werte für Finnland (19,3 Prozent) sowie Schweden (22,9 Prozent) deutlich über diesem Durschnitt, die dänischen Jugendlichen (12,6 Prozent) sowie die isländischen Jugendlichen (10 Prozent) sind etwas unterdurchschnittlich betroffen. Und in Norwegen lassen sich sowieso keine gravierenden Arbeitsmarktprobleme feststellen (wenn man von einer potenziellen Überhitzung des norwegischen Arbeitsmarktes absieht); wie die anderen Indikatoren der Arbeitslosigkeit ist auch die Jugendarbeitslosigkeit in Norwegen im internationalen Vergleich sehr niedrig, der Wert rangiert auf demselben Niveau wie in Deutschland (7,8 Prozent).

Die Hinweise in der Literatur sehen als Gründe für die hohe Jugendarbeitslosigkeit im Norden die immer noch starke Lohnkompression an, die Einstiegslöhne hoch gestaltet. Ebenso werden die strikten Kündigungsschutzregeln angeführt („Last-In-First-Out“), die es den Jugendlichen erschweren, in den Betrieben erfolgreich Fuß zu fassen. Weiter wird beklagt, dass die lange Zeit so gelobten Bildungssysteme eventuell nicht diese Qualifikationen vermitteln, die von den Betrieben benötigt würden (sowohl in Schweden als auch in Finnland findet gegenwärtig ein PISA-Schock statt, wie wir ihn in Deutschland schon vor einem Jahrzehnt erfahren mussten). Und insbesondere die Anhänger des deutschen dualen Berufsbildungssystems sehen in der relativ hohen schwedischen und finnischen Jugendarbeitslosigkeit einen Beleg dafür, dass andere Wege der Lehrlingsausbildung nicht so effizient seien wie die Systeme im deutschsprachigen Raum. Diese Befunde mögen ebenso zutreffend sein wie der Verweis auf unterschiedliche ökonomische Rahmenbedingungen (Finnland zum Beispiel befindet sich seit 2007 in einer schweren ökonomischen Krise). Aber alle diese Erklärungen (und die daraus abgeleiteten Rezepturen zur Beseitigung des Problems) übersehen typisch nordische Eigentümlichkeiten bei der statistischen Erfassung von Arbeitslosenzahlen.

Die banale Erklärung für die relativ hohe Arbeitslosigkeitsrate von Jugendlichen in Schweden und Finnland liegt teilweise darin, dass die Erhebung der Arbeitslosigkeit in diesen Ländern (ebenso wie in Dänemark) über repräsentative Umfragen erfolgt. In diesen Ländern gibt es keine Pflichtversicherung gegen das Risiko der Arbeitslosigkeit. Also sind gerade die Einsteiger auf den Arbeitsmarkt, die noch keine Ansprüche in den Kassen der freiwilligen Arbeitslosenversicherungen erworben haben, nicht gezwungen, sich dort zu melden. Die Jugendlichen können sich bei den Arbeitsmarktbehörden als arbeitssuchend melden – oder auch nicht; es gibt also keine Meldepflicht wie wir es in Deutschland kennen.

Das Statistische Zentralbüro Schwedens (statistiska centralbyrån, scb) hat bereits vor Jahren auf die statistischen Besonderheiten bei der Erfassung der Arbeitslosigkeit aufmerksam gemacht. Die über Umfragen erfolgten Meldungen der Arbeitssuche und Arbeitslosigkeit variieren nach SCB erstens zwischen Altersgruppen. Vor allem die Jugendlichen im Alter von 15 bis 19 Jahren sind prozentual stark von der Arbeitslosigkeit betroffen, weniger stark zumindest die Jugendlichen im Alter von 20 bis 24 Jahren; ebenso steigt die Jugendarbeitslosigkeit rasant im Frühjahr an, um dann rapide im Herbst wieder nachzulassen.

Die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Schweden (und auch in Finnland sowie Dänemark) kann durch folgendes Rechenbeispiel des SCB für das Jahr 2009 relativiert werden: In diesem Jahr meldeten sich in Umfragen in absoluten Zahlen 63.000 Jugendliche im Alter von 15 bis 19 Jahren arbeitslos; die Zahl für die Jugendlichen im Alter von 20 bis 24 Jahre belief sich auf insgesamt 79.000. Von der jüngeren Alterskohorte waren jedoch 44.000 Jugendliche in schulischer Ausbildung (Vollzeit), von der älteren Alterskohorte waren dies immerhin noch 21.000 Jugendliche. Kurzum: Fast die Hälfte der auf diesem Wege arbeitslos gemeldeten Jugendlichen geht in Vollzeit auf die Schule, die Hochschule oder die Universität.

Das „Problem“ der hohen Jugendarbeitslosigkeit ist weniger ein Problem des erschwerten Zugangs der Jugendlichen zum Arbeitsmarkt als vielmehr ein Zusammenspiel aus der Erhebungsmethode und der Gewohnheit der schwedischen (und finnischen) Jugendlichen, im Sommer einer entlohnten Beschäftigung nachzugehen. Dieses Arbeitsverhalten ist auch durch die schwedische und finnische Studienförderung erklärbar, da dort (im Unterschied zu Dänemark) die Studienstipendien nur für neun Monate gezahlt werden, die Jugendlichen also quasi gezwungen sind, eine Arbeit zu suchen, wollen sie nicht von der finanziellen Unterstützung ihrer Eltern abhängig sein. Rechnet man alle diese Bedingungen ein, dann wird seitens des SCB die Jugendarbeitslosigkeit in Schweden nicht auf 24 Prozent (für das Jahr 2012) geschätzt, sondern eher auf 7 Prozent – und dann wäre die Jugendarbeitslosigkeit Schwedens durchaus auf bundesdeutschem Niveau.

Zahlen lügen nicht, aber bei der Interpretation von aggregierten Statistiken sind Kenntnisse über die Entstehung dieser Statistiken unerlässlich. Erst dann wird deutlich, dass die relativ hohe Jugendarbeitslosigkeit im Norden auf andere Gründe zurück zu führen ist als in anderen europäischen Ländern. Insofern ist die Klage über einen erschwerten Zugang der Jugendlichen auf den schwedischen und finnischen Arbeitsmärkten durchaus übertrieben. Ebenso wird durch diese auf dem skizzierten Weg erhobene hohe Jugendarbeitslosigkeit auch die Gesamtarbeitslosigkeit statistisch überschätzt. Der schwedische Ökonom Anders Forslund schätzt, dass die (für das Jahr 2012 ausgewiesenen) Gesamtarbeitslosenquote von 8 Prozent realistisch auf ca. 5,7 Prozent korrigiert werden müsste.

Wie gesagt, Zahlen lügen nicht, aber sie sind mächtig. Daher ist es auch verständlich, dass Regierungen jedweder Couleur, vor allem aber die jüngst gewählte rot-grüne Minderheitsregierung in Schweden, immer wieder der hohen Jugendarbeitslosigkeit den Kampf ansagen. Es ist nicht nur im Ausland weitgehend unbekannt, wie sich die offiziell in den Medien und der Öffentlichkeit gehandelten Zahlen zusammensetzen. Auch die schwedische Öffentlichkeit ist nur sehr begrenzt darüber informiert. Insofern dienen die Zahlen dann auch als Munition im realpolitischen Machtwettbewerb. Und die Mode des internationalen Benchmarkings verführt schließlich Politikerinnen und Politiker dazu, die nationalen „Kennzahlen“ aus international vergleichender Perspektive „zu optimieren“.

Das „Rätsel“ der hohen schwedischen und finnischen Jugendarbeitslosigkeit wird also durch ein Wissen über die Erhebungsmethode der Daten zum Teil erklärbar. Damit soll nicht argumentiert werden, dass Jugendarbeitslosigkeit im Norden kein Problem darstelle. Gerade die ethnische Segregation der (Jugend-)Arbeitslosigkeit im Norden ist ein brennendes Problem für die Integration dieser Gesellschaften. Gleichwohl kann durchaus argumentiert werden, dass die Zahlen aufgrund der Erhebungsmethode das Problem der (Jugend-)Arbeitslosigkeit statistisch überschätzen. Gleichsam wird so das Argument entkräftet, dass einzig das bundesdeutsche System der dualen Berufsausbildung am geeignetsten für einen erfolgreichen Einstieg in den Arbeitsmarkt sei. Wie immer im Leben führen viele Wege nach Rom.