- 23.09.2025
- Kategorie Literaturwissenschaft Kulturgeschichte Politik / Gesellschaft Sonstiges
»Hur farligt det är att skaffa sig för mycket ägodelar« – Kapitalismuskritik und Konsumkultur in Tove Janssons Mumin-Büchern
Gastbeitrag von Antonia-Louise Stamm
Tove Janssons Mumin-Bücher erfreuen sich nach wie vor großer Beliebtheit. Anlässlich des 80-jährigen Jubiläums der Mumins in diesem Jahr, sind im Rahmen des Nordischen Klangs bei der Tagung »Resilienz erzählen – resilient erzählen« viele Muminbegeisterte zusammengekommen.
Vielfach wurden zahlreiche Aspekte der Mumin-Welt schon beleuchtet und gerade Boel Westin, die Mumin-Expertin schlechthin, hat einen großen Beitrag zur literaturwissenschaftlichen Forschung und Hintergrundinformationen zu den Büchern geliefert. Ein neuer Blickwinkel, den ich auf der Tagung vorgestellt habe, ist die Verbindung zwischen Literaturwissenschaft und Wirtschaft: die Reflektion und Kommentierung von Kapitalismuskritik und Konsumkultur in den Mumin-Büchern untersucht – und welche Figuren als Projektionsfläche für antikapitalistische oder konsumbejahende Haltungen dienen.
Das Mumintal – ein sozialutopischer Raum
Das Mumintal zeichnet sich durch eine bemerkenswerte soziale Struktur aus: Hier gibt es keine festgeschriebenen Hierarchien, kein Geldsystem und keine verpflichtenden Aufgaben. Die Bewohner_innen helfen einander freiwillig, leben im Einklang mit der Natur und gestalten ihren Alltag selbstbestimmt. Besonders die Gastfreundschaft ist bemerkenswert, da sämtliche Charaktere, die das Mumintal besuchen oder sich auf den vielen Reisen anschließen, einen Schlafplatz im Muminhaus bekommen und ganz selbstverständlich in die Familie integriert werden. Die Muminfamilie steht stellvertretend für eine Gemeinschaft, die auf Nächstenliebe, Teilhabe und Fürsorge basiert – eine Utopie, die kapitalistische Logiken wie Verwertung und Konkurrenz außer Kraft setzt. Im Folgenden werden Charaktere vorgestellt, die exemplarisch für Materialismus und Antikapitalismus stehen.
Schnupferich – der Minimalist und Rebell
Schnupferich (Snusmumriken) ist die Symbolfigur des bewussten Konsumverzichts. Als Halbnomade besitzt er nur das Nötigste – Mütze, Rucksack, Mundharmonika – und sieht in der Aneignung von Dingen eine Gefahr für die Freiheit: »Wie gefährlich es ist, zu viele Besitztümer anzuhäufen« (Hur farligt det är att skaffa sig för mycket ägodelar) (Tove Jansson (1968), Kometen kommer, S. 85). Diese titelgebende Aussage trifft Schnupferich bei der einzigen Einkaufssituation der Buchreihe im Waldladen in Kometen kommer. Erst nicht abgeneigt, entscheidet er sich schnell gegen den Kauf von neuen Besitztümern und begnügt sich lieber mit seiner alten Hose, die ohnehin viel besser zu ihm passt. Für ihn zählen Erinnerungen mehr als Gegenstände. Daher reist er am liebsten mit leichtem Gepäck – und immer einer Melodie auf den Lippen.
Auch im Konflikt mit dem Parkwächter in Farlig Midsommar wird seine Haltung deutlich: Er rebelliert gegen die Privatisierung der Natur und die willkürliche Einführung von Regeln, wie dem Nichtbetreten des Rasens, dem Hüpfverbot oder dem Lach- und Pfeifverbot, die einer kapitalistischen Logik folgen. Er sieht den Park als Allgemeingut und wehrt sich gegen das arbiträre Einsperren der Natur und Absondern zu allen anderen Charakteren (z.B. der Muminfamilie), die den Park betreten wollen. Jeder sollte die Natur so nutzen dürfen, wie es ihm gefällt und nicht von ausgedachten Verbotsschildern diktieren lassen, was man zu tun und zu lassen hat. Schnupferich steht damit exemplarisch für eine antikapitalistische Gegenfigur, die Autonomie und Naturverbundenheit vor den Besitz stellt.
Die Hemule und die Filijonka – Materialismus und Ordnungsliebe
Demgegenüber stehen die Hemule (Hemulen) und Filijonka (Filijonka), die in unterschiedlichen Formen der »Materialismusfalle« verhaftet sind. Hemule finden ihren Lebenssinn in der Ordnung, als Polizist, im Sammeln von Briefmarken oder seltenen Insekten. Ihr Handeln ist geprägt von Bürokratismus und Kontrolle.
Eine Ausnahme bildet ein Hemul aus der Kurzgeschichtensammlung Det osynliga barnet, der sich, entfremdet von seinen Verwandten und seiner eintönigen Arbeit, des Ticketstempelns, in einen großen verwilderten Park zurückzieht. Dort möchte er seine Ruhe als Pensionär genießen, bekommt aber bald Mitleid mit den anderen kleineren Waldbewohnern, die in einer großen Flut ihren Freizeitpark verloren haben. Erst widerwillig, dann mit Freude, baut der Hemul ihnen diesen Park wieder auf. Er verzichtet auf das kapitalistische Verkaufen von Tickets – nur seine Ruhe möchte er behalten. Abseits von der lauten, kapitalistischen Gesellschaft schafft er so einen Ort der geteilten Freude für alle. Hier wird eine Solidarität deutlich, die in habgierigen Gesellschaften oft fehlt.
Die Filijonka wiederum leidet unter der erdrückenden Last von Erwartungen, Besitz und Ängsten, die sie in ihrem riesigen ungemütlichen Haus erfährt. Ihr Pessimismus ist ein prägender Charakterzug. Erlebt sie einen schönen Sommertag, wartet sie pessimistisch auf die drohende Katastrophe, die mit Sicherheit am Horizont auf sie lauert – in ihrer alleinigen Wahrnehmung.
Sämtliche Erbstücke, Dekoelemente und Möbel können ihre Sehnsucht nach einem gemütlichen Heim nicht erfüllen. Sie fühlt sich isoliert, ohnmächtig, deplatziert und klammert sich an ihren Besitz, der ihr allerdings keine Linderung ermöglicht. Schicksalshaft wird sie jedoch eines Nachts von einem Sturm heimgesucht, der erst ihre Einrichtung zerstört und sie anschließend mit einem Tornado davonträgt. Die Filijonka, die sich unterdessen nach draußen ins Freie gerettet hat, bemerkt, dass die Gefahr die ganze Zeit nicht von draußen, sondern aus dem Haus kam. Sie kann ihr Glück kaum fassen: »Alles ist aufgeräumt und weggeweht! […] Jetzt bin ich völlig frei« (Allt är renstädat och bortsopat! […] Nu är jag alldeles fri) (Tove Jansson (1962), Det osynliga barnet, S. 58). Erst der Verlust ihrer Besitztümer ermöglicht ihr einen Neuanfang. Endlich kann sie diese Dinge mental und physisch loslassen. Ihre verschreckte Nachbarin findet sie am nächsten Tag, wider Erwarten, glücklich und ausgelassen am Strand vor. Kapitalismus, Konsum und damit einhergehende gesellschaftliche Zwänge haben das Leben der Filijonka eingeengt und erst das Wegfallen dieser ermöglichen ihre Befreiung und Selbstbestimmung.
Snorkfräulein und Muminmama – Kontrastierende Frauenrollen
Snorkfräulein (Snorkfröken), in den ersten Büchern oft als Mumintrolls Begleiterin dargestellt, steht für das Streben nach äußerer Schönheit und sozialer Anerkennung. Ihre charakterlichen Unsicherheiten machen sie anfällig für konsumistische Ideale. In ihrer Eifersucht auf eine Gallionsfigur, deren Schönheit Mumintroll zuvor bewundert hat, wünscht sie sich vom Zauberer deren Augen: »Ich habe mir die Augen der Königin aus Holz gewünscht« (Jag har önskat mig trädrottningens ögon) (Tove Jansson (1962), Trollkarlens hatt, S. 155). Todunglücklich muss sie aber feststellen, dass sie vorher viel schöner war und die Augen der Gallionsfigur überhaupt nicht zu ihr passen. Das Schönheitsideal der Dame aus Holz ist zudem nicht echt und wie eine Maske nur aufgemalt. Trotzdem lässt sich Snorkfräulein von ihrem Bedürfnis nach äußerer Bestätigung von diesem Gegenstand leiten und ist sogar bereit, sich einer Art Schönheitsoperation zu unterziehen, um Mumintroll zu gefallen. Dieses Ereignis illustriert deutlich, wie Konsumartikel Identität und Selbstbild (negativ) beeinflussen können.
Im Kontrast dazu steht Muminmama (Muminmamma) als Figur der Genügsamkeit und inneren Ruhe. Ihre ikonische, immer mit dem Wichtigsten bepackte Handtasche, symbolisiert Sicherheit und Fürsorge – nicht Besitz um des Besitzes willen, sondern funktionaler, nachhaltiger Gebrauch. Sie lebt eine solidarische, auf Gemeinschaft ausgerichtete Lebensweise vor und zeigt, dass Glück auch in einfachen Dingen liegen kann. Ihr sorgsam gehüteter Garten ist im ganzen Mumintal bekannt und sie hat großen Anteil daran, dass neue Charaktere immer einen Platz im Haus und am Küchentisch der Familie bekommen, damit sich alle wohl und willkommen fühlen. Für alles und jeden hat sie ein offenes Ohr, liebe Worte, gute Ratschläge und ein wenig Haferbrei übrig.
In einigen ruhigen Momenten kann man sie beim gemütlichen Mittagsschlaf beobachten, den sie sich gönnt, um ein wenig vom mütterlichen Alltag abschalten zu können. Sie ist schließlich immer erreichbar und geschäftig in ihrem Tun. Fürsorge und Allgemeinwohl stehen für sie sehr im Fokus. Sogar im Winterschlaf ist sie für Mumintroll mit guten Ratschlägen verfügbar: »Da antwortete Mama im Schlaf, tief aus ihrem weiblichen Verständnis für alles, was Tradition bewahrt: Trauerbänder… sie sind in meinem Schrank… ganz oben… rechts… dann sank sie wieder in ihren Winterschlaf« (Då svarade mamman i sömnen, djupt ur sin kvinnliga förståelse för allt som bevarar traditionen: Sorgband…de finns i min garderob…högst upp…till höger…Sen sjönk hon in i sin vintersömn igen) (Tove Jansson (2004) Trollvinter, S. 47).
Auch wenn die Verteilung von Care-Arbeit in der Familie der Mumins zwischen Muminpapa und Muminmama recht traditionell aufgeteilt ist, so scheint Muminmama mit ihrer Rolle zufrieden zu sein.
Fazit
Die Muminbücher bieten nicht nur fantasievolle Geschichten, sondern auch ein komplexes Modell für eine alternative Gesellschaft jenseits kapitalistischer Werte. Figuren wie Schnupferich oder Muminmama verkörpern dabei unterschiedliche Facetten von Konsumkritik und Solidarität, während Charaktere wie Snorkfräulein oder die Filijonka eindrucksvoll zeigen, wie sehr äußere Zwänge und gesellschaftliche Ideale das Selbstbild und Verhalten beeinflussen können. Janssons Werk lädt dazu ein, unsere Vorstellung von Besitz, Glück und Gemeinschaft neu zu denken – eine Einladung, die auch heute nichts an Aktualität verloren hat.
Antonia-Louise Stamm ist Bachelorabsolventin mit den Fächern Skandinavistik & Betriebswirtschaftslehre an der Universität Greifswald.
Literaturverzeichnis:
Jansson, Tove: Trollkarlens hatt, Stockholm 1962.
Jansson, Tove: Det osynliga barnet, Stockholm 1962.
Jansson, Tove: Kometen kommer, Helsingfors 1968.
Jansson, Tove: Trollvinter, Stockholm 2004.