- 19.02.2017
- Kategorie Kulturgeschichte
Hygge – eine dänische Seligkeit
Die Fahndung nach einer Erklärung, warum die Skandinavier seit Jahren die Spitzenplätze auf der internationalen Wohlfühlskala einnehmen und die Dänen dabei im internationalen Vergleich regelmäßig zu den glücklichsten Menschen gekürt werden, hat zu einer seit Längerem unübersichtlich gewordenen Medienbewachung geführt, nicht zuletzt im angelsächsischen Raum. Auch eine zunehmende wissenschaftliche Abdeckung des Themas ist zu beobachten: In Redaktionen, in Thinktanks oder in wissenschaftlichen Instituten hat sich eine Glücksforschungsindustrie bemerkbar gemacht, die wirklich erstaunlich ist – aber bisher auch noch keine überzeugenden Antworten gefunden hat, warum gerade die Dänen glücklicher sind als ihre Nachbarn oder gar entferntere Nationen, die auf vergleichbarem Zivilisationsniveau auszumachen sind. Genauso wenig ist es bisher gelungen, dass die seit Jahren offensichtliche Korruptionsanfälligkeit der isländischen politischen und wirtschaftlichen Nomenklatur in die einschlägigen Bewertungsskalen eingegangen ist.
In den Fokus ist bei dieser postfaktischen Ursachenergründung seit einiger Zeit der Begriff hygge geraten, ein „Lebensgefühl, das einfach glücklich macht“ (der Begriff kommt eigentlich aus dem Norwegischen). Der Observer nennt eine lange Liste von Dingen, die unbedingt zu hygge gehören,[1] und die Süddeutsche Zeitung brachte Ende 2016 innerhalb von drei Monaten immerhin zwei große Beiträge zum Thema;[2] andere Medien kommen bei der Berichterstattung auch selten um eine Seite herum. In München residiert ein Online-Shop, der hygge-Artikel vertreibt.
Der Journalist Elmar Jung beschrieb Dänemark schon 2013 auf 300 Seiten im Grunde als hygge-Land. Im Schwedischen gibt es ein vergleichbares Wort nicht, aber die Institution fika kommt dem assoziierten Lebensgefühl recht nahe: fika ist die im Arbeitsleben fest institutionalisierte und mit allerlei Zutaten – vor allem Kaffee – angereicherte und strikt einzuhaltende Arbeitspause am Vormittag und am Nachmittag.
Bei Google sind zu diesem dänischen Gemütlichkeitsbegriff über zehn Millionen Einträge erfasst; in Großbritannien erschienen allein im Jahr 2016 zehn Bücher zum Thema, zumeist Wohlfühlratgeber: Feierabend, Familie, gute Freunde, Kerzenschein, Wollsocken, Tee, Schnickschnack und Kaminfeuer, vor der Tür sollte es gerne dämmrig sein, mindestens stürmen – mit anderen Worten ein immerwährendes Weihnachten, eine heile Welt des Kitsches und der unnützen Dinge nicht nur für Kinder. Kann man etwas gegen Gemütlichkeit haben?
Hygge gehört, nachdem das Kopenhagener Kulturministerium dieses mit neuesten Meinungsumfragen herausgefunden hat, heute zu den zwanzig am meisten genannten dänischen Selbstzuschreibungen, hygge ist also typisch dänisch. Der Begriff wurde daher in den aktuellen dänischen Kulturkanon aufgenommen – es ist der siebte Kanon in knapp zehn Jahren und hat, ministeriell abgesegnet, den bezeichnenden Namen Danmarkskanon („Dänemark-Kanon“) bekommen. Der Traum vom besseren Leben ist also erreicht und regierungsamtlich bestätigt – die Debatte dazu war in den dänischen Medien heftig und umfassend.[3]
Ausgeblendet wird bei diesem Thema regelmäßig die kurante Fremdenfeindlichkeit und die statistische Unerfreulichkeit, dass die Dänen unter allen westlichen Wohlfahrtsstaaten die niedrigste Lebenserwartung haben. Die Deutschen und die skandinavischen Nachbarländer rangieren auf der Skala der Weltgesundheitsorganisation vor ihnen – ein Verbrauch von 8,2 Kilogramm Zucker pro Kopf und Jahr (der europäische Durchschnitt beträgt 4,1 Kilogramm) ist der Volksgesundheit nicht besonders zuträglich, und der Duft von gebratenem Bacon, ganz zu schweigen von anderen Fetten, mag hyggelig sein, allerdings hat der Verbrauch von drei Kilogramm pro Jahr und Kopf dann auch ungemütliche Folgen.
Der in Dänemark lebende, britische Journalist Michael Booth ‒ auch er ist auf der Suche nach dem nordischen Glück und dem skandinavischen Utopia mit fast perfekten Menschen ‒ nimmt als verwundernde und dialektische Ausgangspunkte seiner kritischen Recherchen Folgendes: Die Dänen sind das glücklichste Volk der Welt und zahlen die höchsten Steuern; das „neutrale“ Schweden ist der größte Waffenproduzent der Welt (per capita); die Finnen besitzen nach den USA die meisten Waffen pro Kopf; 54 Prozent der Isländer glauben an Elfen; Norwegen ist das reichste Land der Erde; fünf Prozent der Dänen haben Sex mit Tieren gehabt … Die Nordländer waren, wie man sich denken kann, über seine frechen Rechercheergebnisse alles andere denn amüsiert.
Wundern muss man sich eigentlich nicht über die selektiven Wahrnehmungen zu dem, was in früheren Zeiten die „Volksseele“ und der „Volkscharakter“ genannt wurde – und eben genau auch dieses meinte; nur kehrten sich die bewertenden Zuschreibungen gelegentlich um. Caesar und Tacitus waren noch relativ begeistert von den Tugenden der Bewohner nördlich des Limes; mit der Völkerwanderung kam dann aber der mit den mit ihnen verbundene Horror in die gängigen Beschreibungen, erst recht, als die Wikinger vor über tausend Jahren mit ihren Eroberungszügen diverse Teile Europas in Angst und Schrecken versetzten. Genauso geht die Paradiesvorstellung im Norden weit zurück: Als die alte Ordnung mit der protestantischen Revolution in Trümmer fiel und der Katholizismus verteidigt werden musste, schrieb im 16. Jahrhundert das schwedische Brüderpaar Johannes und Olaus Magnus, beide Bischöfe, einen der frühesten Klassiker zur nordischen Geschichte: die Historia de gentibus septentrionalibus. Die Absicht war, den römisch-katholischen Machthabern die Größe, die Bedeutung und den Nutzen Skandinaviens klarzumachen und sie zum Engagement für die Gegenreformation zu gewinnen, natürlich auf Latein. Demnach läge das Paradies im Norden, wo die Menschen glücklich und zufrieden, leider aber nur noch nicht christlich seien. Dieses Muster sollte sich in den folgenden beiden Jahrhunderten wiederholen und mit dem „Götizismus“ zur schwedischen Staatsideologie werden.
Bis in die jüngere Zeit werden die Zuschreibungen und Begriffe aus Berichten wie diesem überliefert und weiterverbreitet. Ein schönes Beispiel dafür ist Ernst Blochs monumentales Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung, das er zwischen 1938 und 1947 im amerikanischen Exil schrieb; er plädierte damit für einen „Grundriss einer besseren Welt“ (der ursprünglich vorgesehene Titel war „The Dreams of a Better Life“). Darin heißt es: „Thule [und damit ist der Norden schlechthin gemeint] ist die geographisch-dialektische Utopie einer Welt, die ausgeht und untergeht, doch mit dem dauernd ineinander verschränkten Kontrastbild von Sturmnacht und Burg. Thule im Nordmeer ist die Mystik des schlechten Wetters, mit dem Kaminfeuer mitten drin.“[4]
Zur mystischen Beschwörung des Nordens gehören bei Bloch das Untergangsszenario (Ragnarök) wie das knisternde Kaminfeuer ‒ beide stehen für die Erhabenheit des Nordens. Der aktuelle hygge-Kult verwandelt nun die Bloch’sche Erhabenheit in eine schlichte, säkulare Gemütlichkeit mit Wollsocken und Pudelmütze; etwas Sakrales bleibt ihr gleichwohl beigemengt: Viel Fantasie, Feiertagsrituale, ganzjähriges Weihnachten. Den Beschwörern der hygge-Erhabenheit wäre entgegenzuhalten, ob es wirklich dieser (vermeintliche) Kult war, der dänische Unternehmen an die Weltspitze gebracht hat, beispielsweise LEGO®, Hörgeräte von u. a. Widex, Container-Schifffahrt von Mærsk, Bang & Olufsen usw.
Und die politische Dimension von hygge? Der dänische politische Diskurs und die dominante dänische nationale Identitätskonstruktion kreisen seit über 200 Jahren um die gesellschaftliche Achse; sozialer Zusammenhalt (cohesion) wird als Vorbedingung für den Erhalt der politischen Institutionen gesehen ‒ hygge ist ein Teil davon. Wer neu ins Land kommt, muss daher zunächst einmal die Forderungen nach dem, was „dänisch“ ist, erfüllen. Das vorgegebene Set an Normen und Restriktionen – der „Kulturkanon“ – wird in gleicher Weise an eine bestehende Ordnung gebunden, aber eben auch von Neuankömmlingen abgefordert, ihre Inklusion soll nur unter dieser Vorbedingung akzeptiert werden. Hier echot das unbewusst operierende Janteloven („Gesetz von Jante“) in seiner postmodernen Form: „Glaube ja nicht, dass du besser bist als wir!“ Identifizieren lässt sich damit eine Erklärung für den Wunsch und den Willen nach sozialem Zusammenhalt in der Gesellschaft und nach größtmöglicher gesellschaftlicher Homogenität, nach Anpassung, ja, nach hygge.
Prof. em. Dr. Bernd Henningsen, Nordeuropa-Institut, Humboldt-Universität zu Berlin
[1] http://observer.com/2016/11/hygge-the-danish-word-thats-about-to-take-over-america/ [21.11.2016].
[2] http://www.sueddeutsche.de/stil/lebensstil-das-daenische-gluecksrezept-heisst-hygge-1.3148698 [21.11.2016], http://www.sueddeutsche.de/stil/essay-sofa-so-gut-1.3254140 [21.11.2016].
[3] S. http://politiken.dk/kultur/art5734295/Nu-skal-danskerne-igen-dannes-men-nytter-det [17.02.2017]; http://politiken.dk/kultur/art5734085/Frisind-er-det-mest-danske-der-findes [17.02.2017].
[4] Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. 3 Bde. Frankfurt/M. 1982, S. 914.