- 20.03.2013
- Kategorie Geschichte / Archäologie
Nach dem Einsturz folgt der Wiederaufbau
Nur in wenigen europäischen Städten hat sich bis heute eine geschlossene Ringmauer um den mittelalterlichen Stadtkern erhalten. Die Stadtmauer von Visby auf Gotland stellt hierbei mehrfach eine Besonderheit dar: Zunächst war es im skandinavischen Raum im Mittelalter nicht üblich, Städte mit einer Mauer zu befestigen. Stadtmauern gab es daher abgesehen von in Visby nur in wichtigen Niederlassungen wie Malmö, Kalmar oder Stockholm. Einmalig in Skandinavien kann der heutige Visbybesucher also eine mittelalterliche Befestigungsanlage mit all ihren Toren und Verteidigungswerken umrunden und studieren sowie zusätzlich, wie kaum an einem anderen Ort, die Stadtmauer als Grenze zwischen Stadt und Land erfahren – zur Landseite hin blieb der Bereich vor der Mauer großflächig unbebaut.
Dieser Raumeindruck zusammen mit dem mittelalterlichen Straßennetz, über 200 Häusern mit weitestgehend mittelalterlichen Bauelementen und die beeindruckenden Kirchenruinen (in Visby gab es 15 Kirchen innerhalb der Stadtmauer und zwei außerhalb) sind Gründe für den Status als UNESCO-Weltkulturerbe, der Visby 1995 verliehen wurde. Der Erhalt dieses einmaligen Bauensembles verlangt viel Einsatz und dennoch gelingt es nicht immer, dem Zahn der Zeit zu trotzen: Vor etwas mehr als einem Jahr, am Abend des 24. Februar 2012, löste sich ein ca. 70 qm großer Abschnitt der äußeren, zum Ostgraben zeigenden Mauerschale direkt nördlich des Osttores – in Anbetracht der Steinmasse war es Glück, dass dabei niemand zu Schaden kam. Der zur Einsturzstelle gehörende Mauerabschnitt hat eine maximale Höhe von 9 Metern und wurde weiträumig abgesperrt.
Wie kam es zu diesem Unfall?
Der betroffene Mauerabschnitt wurde an der Außenseite zuletzt in den 1940er und 1950er Jahren restauriert und die Innenseite in den 1970er Jahren. Sicher ist, dass, wie es seit den 1940er Jahren üblich war, ein zementbasierter Fugenmörtel für die letzte Restaurierung verwendet wurde. Das im Mörtel gebundene Wasser schädigte über die Jahre das Baumaterial und löste bei Frost im vorletzten Februar quasi die finale Sprengung aus. Lars Sjösvärd, der Leiter des Museums Gotlands Fornsal in Visby, machte den Wetterumschwung und die gegeneinander arbeitenden Materialien an der Mauer für den Unfall verantwortlich. An der Stadtmauer Visbys finden sich mehrere solcher Stellen, wobei nach einer Begutachtung im April 2012 nur die direkte Umgebung der Einsturzstelle ein ähnliches Risikoniveau wie diese erhielt.
Die Visbyer Stadtmauer und ihre Geschichte
Die Stadtmauer Visbys ist in verschiedenen Etappen entstanden. Ursprünglich schützten der „Pulverturm“ („Kruttornet“) – heute der älteste Bestandteil der Stadtbefestigung aus den Jahren 1158-61 – und ein heute nicht mehr erhaltener Wehrturm die Einfahrt des Hafens an der nördlichen und südlichen Einfahrt. Die zum Hafen orientierte Seemauer ist folgend der älteste Teil der Stadtmauer, der um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert entstand und die beiden erwähnten Kastelle miteinander verband. Neben der Schutzfunktion wurde damit auch die Zollgrenze zur Stadt markiert.
Der eingestürzte Mauerteil gehört zur ca. 2000 Meter langen Landmauer, die in den 1270er und 1280er Jahren errichtet wurde. Zunächst war die Landmauer fünf bis sechs Meter hoch mit einem Wächtergang an der Krone und sechs bis sieben Toren ohne Turmüberbauung. Zu Anfang gab es wenige Feldtürme als weitere Verteidigungsanlagen – ursprünglich aber bereits den mächtigen „Kaiser(turm)“ im Ostabschnitt und noch zwei oder drei Türme entlang der Südmauer.
Die Errichtung der Mauer war ursächlicher Grund für den Ausbruch eines Bürgerkrieges im Jahre 1288 zwischen der Stadtbevölkerung Visbys und der Landbevölkerung Gotlands. Nach Errichtung des geschlossenen Mauerrings war es der Landbevölkerung nicht mehr möglich, zollfrei ihre Waren in die Stadt zu bringen. Zusätzlich emanzipierte sich die Stadtbevölkerung vom Ting der Insel Gotland – der Selbstverwaltung der gotländischen Landbevölkerung, dem Visby ursprünglich mit unterstand.
Die Stadt ging siegreich aus dem Konflikt hervor. Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts wurde die Mauer darauf folgend erhöht und mit Tortürmen sowie weiteren Feldtürmen versehen – letztendlich 29, von denen heute noch 27 erhalten sind. Der Torturm des Osttores kann dabei schon frühestens 1286 begonnen worden sein. Als letztes wurden auf der Mauerkrone zwischen den Tor- und Feldtürmen 22 Satteltürme errichtet, von denen heute noch neun zu finden sind.
Schon Anfang des 18. Jahrhunderts verlor die Stadtmauer Visbys ihren Charakter als Verteidigungsanlage und wurde seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und dem beginnenden 19. Jahrhundert zunehmend auch aus touristischen Gründen als erhaltenswert angesehen. Das romantische Interesse an Ruinen und ihrer Geschichte hat so auch dem einmaligen Bauensembles Visbys das Überleben gesichert, gab es doch seitens staatlicher Stellen in den 1730er Jahren sogar den Vorschlag alle Ruinen inklusive der Mauer in Visby zu verkaufen. Die Intervention des Visbyer Stadtrates hatte keinen Erfolg, so dass 1785 die Ruinen tatsächlich auf einer öffentlichen Auktion zum Verkauf standen – nur, es fand sich kein Käufer!
Visbys Stadtmauer hat über die Jahrhunderte verschiedene Veränderungen und Restaurierungen erfahren. Die verschiedenen Bauetappen im Spätmittelalter verweisen auf die ursprüngliche Funktion als Verteidigungsanlage. Mit einem zunehmenden Ausgreifen der Bebauung über die alte Mauer hinweg, wurde diese an die jeweils zeittypische Verbindung von Stadt und Land angepasst: Zur Landseite wurden v.a. in der Neuzeit weitere Öffnungen der Mauer hinzugefügt (z.B. das Schultor), Brücken über die alten Wallanlagen errichtet (am Dalmanstor) oder die alten Stadttore an das Nebeneinander von Autoverkehr und Fußgängern angepasst (Südtor). Der mittelalterliche Hafen Visbys versandete schon am Ende des Mittelalters und befand sich dort wo heute die Grünanlage „Almedalen“ zu finden ist. Die alten Tore in der Seemauer verloren somit weitestgehend ihre Funktion.
Was wird nun aus dem eingestürzten Mauerstück?
Geld spielte zunächst einmal – wie so oft – eine entscheidende Rolle. Bereits 2002 wurde an das Riksantikvarieämbetet (die schwedische Behörde für Denkmalschutz) gemeldet, dass die Innenseite der Mauer an der Stelle, die nun zum Problem wurde, gefährdet sei. Die jährlich zur Verfügung stehenden Mittel zum Erhalt der Mauer betrugen bis letztes Jahr 100.000 schwedische Kronen (ca. 12.000 €). Jörgen Renström, zuständig für die Baudenkmäler am Museum Gotlands Fornsal, betonte, dass für 2012 keine Mittel mehr zur Verfügung standen, um die Mauerpartie wiederherzustellen.
Von Seiten des Riksantikvarieämbetet heißt es hingegen, dass die Restaurierung von Anfang an für das Jahr 2013 geplant war und 2012 als Planungsphase dienen sollte: so wurde Ende August 2012 in Visby eine Tagung abgehalten, die neben Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland auch Vertreter der Baubranche versammelte, um auch die praktische Seite der gegenwärtig nutzbaren Materialien beleuchten zu können. Das schwedische Riksantikvarieämbetet stellte für die Planungsphase mittlerweile 400.000 schwedische Kronen (ca. 48.000 €) bereit. Nach Informationen des Riksantikvarieämbetet wird die Wiederaufrichtung des Mauerabschnitts unter Beteiligung verschiedener Partner wie der Högskolan på Gotland im Rahmen eines Forschungs- und Entwicklungsprogramms geschehen. Dabei sollen auch Erkenntnisse für zukünftige Mauerrestaurierungen gewonnen werden.
Verschiedene Zuständigkeiten für die Mauer waren neben dem Faktor Geld von Bedeutung. Die Mauer gehört bis auf drei Türme der Region Gotland. Verwaltet wird sie wiederum vom Riksantikvarieämbetet, welches das Museum Gotlands Fornsal die anfallenden Aufgaben ausführen lässt. Das kleine Wirrwarr führte dazu, dass zunächst unklar war, welche Institution die Kosten übernimmt – mittlerweile erfolgt die Finanzierung durch das Riksantikvarieämbetet und Spenden von Privatpersonen. Die Kampagne „Rädda Ringmuren“ wurde bereits in der ersten Hälfte der 1990er Jahre initiiert, als der Erhalt der Stadtmauer ebenfalls gefährdet war. Das Spendenkonto wurde nie geschlossen, so dass „Rädda Ringmuren“ in die nächste Runde gehen konnte. Bisher sind dabei 110.000 schwedische Kronen zusammengekommen.
Im Dezember 2012 wurde die eingestürzte Mauerpartie mit einem Wetterschutz versehen, der seit Sommer 2012 geplant war. Dieser soll technisch nicht mit der Mauer verbunden sein, aber gleichzeitig die Partie schützen und die Wiederherstellungsarbeiten gewährleisten. Im Frühling sollen die Arbeiten nun beginnen und, nach Aussage der Leiterin der Abteilung für Bauwerke und Sehenswürdigkeiten Anna Klint Habbe, auch auf jeden Fall noch in diesem Jahr beendet werden.
In einem Schreiben vom 19. März 2012 wurde zusätzlich die UNESCO über den Vorfall und das weitere Vorgehen informiert: Der Weltkulturerbe-Status steht im Fokus der Arbeit des Riksantikvarieämbetet und dieser ist laut Antwort der UNESCO für Visby nicht in Gefahr.
Das Riksantikvarieämbetet informiert regelmäßig auf seiner Homepage über den Fortschritt der Restaurierungen, demnächst auf einer eigenen Seite zum Thema. Zusätzlich wurde Henrik Löwenhamn als Sprecher des Projektes eingesetzt, der selbst auf einem Blog über die Arbeiten berichtet.
Informationen zu Spendenmöglichkeiten sind auf der Homepage von Gotlands Fornsal erhältlich. Spenden aus dem Ausland können unter folgender Bankverbindung geleistet werden:
Kontoinhaber: Föreningen Gotlands Fornvänner
IBAN: SE27 8000 0848 0618 3631 4185
Swift-Adresse: SWEDSESS
Betreff: ”Rädda Visby ringmur”