Norwegen als Gastland auf der Leipziger Buchmesse 2025 – Ein Rückblick

von NORDfor

Gastbeitrag von Espen Børdahl 

Norwegen war im März 2025 Ehrengast auf der Leipziger Buchmesse. Dieser Anlass trug nicht nur zur Sichtbarmachung ebenso etablierter wie neuer literarischer Stimmen aus Norwegen bei, sondern gab auch Aufschluss über zentrale Tendenzen und kulturpolitische Rahmenbedingungen der norwegischen Gegenwartsliteratur. Die folgenden Überlegungen nehmen sich eine literatur- und kulturpolitische Kontextualisierung des Gastlandauftritts vor.

Seit Jahren erlebt die norwegische Literatur einen Aufschwung: kommerziell mit Krimis (z. B. Jo Nesbø) und climate fiction (Maja Lunde), künstlerisch vor allem durch die wachsende internationale Anerkennung, die norwegischen Autorinnen und Autoren zuteilwird. Ein Höhepunkt dieser Entwicklung war zweifellos die Verleihung des Literaturnobelpreises an Jon Fosse im Jahr 2023. Geehrt wurde Fosse jedoch nicht für massenwirksame Erzählformen, sondern für einen literarischen Avantgardismus in Drama und Prosa, wie er unter den etablierten Stimmen der norwegischen Gegenwartsliteratur selten geworden ist.

Die norwegische Belletristik der letzten zwei Jahrzehnte war vor allem von der sogenannten virkelighetslitteratur geprägt – einem Trend hin zu autofiktionalem Erzählen, der weniger von formalem Gestaltungswillen als vom Bedürfnis nach vermeintlicher Authentizität und Selbstinszenierung getragen wurde. Dieser Trend bestimmte den literarischen Diskurs zeitweise in so hohem Ausmaß, dass selbst Autorinnen und Autoren wie Helga Flatland oder Maria Kjos Fonn berichten, ihre Romane würden häufig automatisch einer solchen Lesart unterzogen, obwohl sie gar nicht autofiktional angelegt seien.

Der prominenteste Vertreter dieser Strömung ist Karl Ove Knausgård, dessen monumentaler Romanzyklus Min kamp die Grenzen zwischen autobiografischem Bekenntnis und literarischer Konstruktion gezielt verwischt. Min kamp machte Knausgård zum Star einer globalen Literaturszene, die nicht nur an seinem Werk Gefallen fand, sondern auch von seinem mittlerweile ikonischen Konterfei. Zu Beginn seiner Poetikvorlesung an der Goethe-Universität Frankfurt im Sommersemester 2018 sah sich sogar der Schweizer Autor Christian Kracht veranlasst, sich für seine vermeintliche Ähnlichkeit mit Knausgård auf dem Plakat zu entschuldigen. Knausgårds Erzählweise ist jedoch im norwegischen Vergleich keineswegs einzigartig: Autorinnen und Autoren wie Vigdis Hjorth, Tomas Espedal, Geir Gulliksen, Linn Ullman, Jan Grue, Kjersti Annesdatter Skomsvold, Merethe Lindstrøm, Hilde Rød-Larsen und vielen anderen haben den reality hunger der Gegenwart in ihren Romanen teilweise noch weitaus radikaler und provokativer bedient.

Auf der Leipziger Buchmesse trat Knausgård schließlich wie erwartet weiterhin als gefeierter Star auf. Als ihm beim Signieren die Bücher ausgingen, nahm er sich als Notbehelf Bücher von Maja Lunde zur Hand. Das ZEITmagazin brachte im Vorfeld ein Porträt unter dem Titel »Ich versuche meine Eitelkeit zu bekämpfen« und stattete ihn für das Foto auch modisch aus: »Leichter Mantel von Uniqlo, T-Shirt von Arket, Hose von Giorgio Armani, Stiefel: privat.« Diese Beschreibung erinnert an jene Passagen in Min kamp, in denen Knausgård sich vor Interviewterminen im Spiegel betrachtet und dabei die Marken seiner Kleidungsstücke aufzählt. Am zweiten Abend der Buchmesse wurde er vom Feuilletonredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Andreas Platthaus, im ausverkauften Schauspiel Leipzig interviewt, am dritten Abend schloss ein Gespräch mit Thomas Böhm die norwegische Nacht in der Schaubühne Lindenfels als Höhepunkt ab.

Knausgård schreibt längst keine Autofiktion mehr, auch wenn seine Morgenstern-Bücher immer wieder Referenzen streuen, die diesbezüglich aufhorchen lassen. Die Schilderung der Ehe zu Beginn des ersten Bandes etwa erinnert zunächst an die Bloßstellungen intimer Situationen aus Knausgårds zweiter Ehe, wie wir es bereits aus Min kamp oder aus der Jahreszeiten-Tetralogie kennen. Diesen Weg hat er jedoch verlassen. Mit den Morgenstern-Büchern wendet sich Knausgård einer Variante jenes magischen Realismus und Gothic zu, die den jungen Leser Karl Ove einst so sehr in den Bann gezogen hatten, bevor er selbst Schriftsteller wurde und sich, wie er in Min kamp noch schildert, zunächst widerwillig den ästhetischen Geschmacksanforderungen des literarischen Establishments unterordnen musste.

In Leipzig wurde der vierte von bislang fünf erschienenen Bänden der Morgenstern-Reihe vorgestellt: Die Schule der Nacht (Luchterhand, Übersetzung von Paul Berf). Sowohl Andreas Platthaus als auch Thomas Böhm suchten in ihren Gesprächen mit Knausgård in Erfahrung zu bringen, ob Knausgård diese Geschichte mit der Leipziger Buchmesse im Hinterkopf geschrieben hatte: Im Zentrum des Bandes steht ein faustischer Pakt, und ausgerechnet Leipzig, mit Auerbachs Keller als einer der berühmtesten Schauplätze in Goethes Faust, erscheint hier nicht zufällig als traditionsreicher Ort literarischer Dämonenpakte. Auch beim zweiten Mal – obwohl er die gleichlautende Frage bereits am Vortag beantwortet hatte – setzt Knausgård ein halb schüchternes, halb geehrtes Lächeln auf und verneint höflich, bevor er zu einem längeren Vortrag über die Bedeutung der faustischen Tradition für sein Schreiben ansetzt.

Der Trend zur Abkehr von der Autofiktion war auf der Leipziger Buchmesse allerdings nicht allein bei Knausgård zu beobachten. In den Romanen von Ingeborg Arvola und Edvard Hoem etwa tritt an die Stelle der selbstreferenziellen Erzählweise zunehmend Exofiktion: Ihre literarischen Projekte speisen sich nicht länger aus einem autobiografischen Ich, sondern finden ihren narrativen Ausgangspunkt in historischen Personen, in beiden Fällen aus der eigenen Familiengeschichte. Die erzählerische Spannung entsteht hier ähnlich wie bei der Autofiktion aus dem Oszillieren zwischen dokumentarischem Anspruch und literarischer Imagination, jedoch ohne jene potenziell skandalöse Dimension, die durch die Darstellung noch lebender Personen als literarische Figuren entstehen kann. Beim erfolgreichen Jungautor Oliver Lovrenski, der in bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann (Hanser Berlin, Übersetzung von Karoline Hippe) ein junges Drogenmilieu schildert, dienen auch eigene Erfahrungen als Resonanzraum, ohne dass aber der Weg autobiografischer Bekenntnisliteratur eingeschlagen wird. Vielmehr haben wir es hier mit dem Streben nach Authentizität in der Darstellung bestimmter Jugendkulturen zu tun, die wir sonst auch von Mario Navarro Skaranger und Zeshan Shakar sowie aus dem norwegischen Jugenddrama im Fernsehen kennen, insbesondere 16–19. Nicht im Zentrum steht Authentizität in den expansiven Romanen von Johan Harstad. Sein jüngstes Buch, Unter dem Pflaster liegt der Strand (Classen, Übersetzung von Ursel Allenstein und Stefan Pluschkat), nähert sich in der Fragmentierung der Erzählstränge sowie in der allgemeinen Komplexität dem postmodernen Roman an.

Anstatt eine spezifische Tendenz der norwegischen Gegenwartsliteratur hervorzuheben, lag der Fokus des Gastlandauftritts auf der Leipziger Buchmesse vielmehr auf der Präsentation ihrer derzeitigen Vielfalt. Dazu zählte auch die prominente Positionierung samischer Literatur, die das seit einigen Jahren wachsende globale Interesse an indigenen Perspektiven widerspiegelt. Mit Kathrine Nedrejords Roman Acht Jahreszeiten (Eichborn Verlag, Übersetzung von Stefan Pluschkat, erscheint auf Deutsch im Herbst 2025) hat diese Thematik zuletzt eine breite Leserschaft in Norwegen gefunden. Auch die Kinderliteratur kam nicht zu kurz: Mit Fuchs & Ferkel. Tücken mit Mücken (Klett, Übersetzung von Meike Blatzheim) lieferte Bjørn F. Rørvik in der Internationalen Jugendbibliothek zweifellos eine der lebendigsten Vorleseperformances und fesselte ein begeistertes Publikum von überwiegend unter sieben Jahren mit pointierter Lesekunst und charmant-burleskem Humor. In Norwegen ist Rørvik vor allem für seine Zusammenarbeit mit Gry Moursund und die Bücherserie Bukkene Bruse (dt.: die Böckchen-Bande (Klett, Übersetzung von Monika Osberghaus) bekannt, die zu den größten Phänomenen der norwegischen Kinderliteratur seit den ewigen Klassikern von Thorbjørn Egner gehören. Doch auch in seinen Geschichten über die Figuren Fuchs und Ferkel (illustriert von Claudia Weikert), die er auf der Messe vorstellte, zeigt sich sein Gespür für die Verarbeitung jener Situationen und Orte, die das Interesse und die Neugier von Kindern wecken.

Ergänzt wurde die Präsentation dieser ganzen Bandbreite norwegischer Gegenwartsliteratur mit den Übersetzungen norwegischer Klassiker, darunter Tarjei Vesaas’ Frühlingsnacht (Guggolz Verlag, Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel), dessen Titel im Einklang mit dem Motto des Gastlandauftritts steht, »Traum im Frühling«, und Torborg Nedreaas’ Nichts wächst im Mondschein (Luchterhand, Übersetzung von Gabriele Haefs). Schade nur, dass man die Buchmesse nicht zum Anlass nahm, weitere Romane des kurz vor der Messe verstorbenen Autors Dag Solstad zu übersetzen. Obwohl Solstad als einer der zentralsten Autoren der norwegischen Nachkriegsliteratur gilt, sind viele seiner wichtigsten Bücher, etwa Roman 1987, bis heute nicht ins Deutsche übertragen. Angesichts der ansonsten bemerkenswert erfolgreichen norwegischen Kulturpolitik, die Übersetzungen ins Deutsche mit erheblichem finanziellem Aufwand fördert, ist zu fragen, wann dieser gewichtige Teil von Solstads Werk auch dem deutschsprachigen Raum zugänglich gemacht wird.

Hinter der Vielfalt der norwegischen Literatur, wie sie auf der Leipziger Buchmesse präsentiert wurde, und ihrem internationalen Erfolg steht eine konsequente Kulturpolitik, die in Norwegen seit den 1960er-Jahren verfolgt wird. Herzstück dieser Kulturpolitik ist ein staatlich finanziertes Buchankaufsprogramm (innkjøpsordningen), das Autoren und Verlagen seit 1965 finanzielle Stabilität bietet – insbesondere bei literarischen Vorhaben, die nicht auf Marktwirksamkeit ausgerichtet sind. Per Petterson, der gemeinhin als Vorreiter norwegischer Qualitätsliteratur mit internationaler Strahlkraft gesehen wird, hat wiederholt betont, dass er seine schriftstellerische Laufbahn ohne diese Förderung vermutlich früh beendet hätte. Ebenso fraglich ist es, ob ein Projekt wie Knausgårds Min kamp, das später kommerziell großen Erfolg hatte, ohne diese Unterstützung je realisiert worden wäre. Ein Meilenstein ist in diesem Zusammenhang auch die Gründung der Agentur NORLA (Norwegian Literature Abroad) im Jahr 1978, die seither die internationale Vermittlung norwegischer Literatur mit großem Erfolg koordiniert und fördert. Gerade die letzten Jahre waren für die norwegische Literatur sehr ereignis- und erfolgreich: 2019 war Norwegen Gastland auf der Buchmesse in Frankfurt am Main, 2025 nun in Leipzig. Im Jahr 2026 soll die norwegische Kinderliteratur bei der internationalen Kinderbuchmesse in Bologna vorgestellt werden. Der Auftritt Norwegens auf der Leipziger Buchmesse hat eindrucksvoll gezeigt, wie lebendig und zugleich nuanciert die gegenwärtige Literaturlandschaft in Norwegen ist. Zwischen Avantgarde, Jugendkultur, Minoritätenliteratur und Klassikern eröffnen sich neue Lesewelten – auch für das deutschsprachige Publikum.

Espen Børdahl ist Lektor für Norwegisch am Institut für Skandinavistik der J. W. Goethe-Universität Frankfurt am Main.