- 10.03.2023
- Kategorie Geschichte / Archäologie Sonstiges
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Matti Klinge (1936-2023) – Ein Nachruf
von Michael Jonas
Es gibt nicht viele Finnen und noch weniger finnische Akademiker, die außerhalb ihres Landes eine gewisse Bekanntheit erlangen. Normalerweise bleibt eine über Finnland hinausreichende Resonanz Architekten und Rennfahrern, Dirigenten oder Designern vorbehalten. Der am 5. März 2023 im Alter von 86 Jahren verstorbene Historiker Matti Klinge gehörte indes zu den wenigen auch international profilierten, hochgeehrten Vertretern seiner Zunft. In Finnland genoss er die Aura eines letzten Nationalhistorikers; er war damit Vertreter eines Typus, der im Verlauf des 20. Jahrhunderts abhanden gekommen zu sein scheint. Im Grunde steht Matti Klinge für etwas, mit dem sich die auf Gleichheit ausgelegten nordischen Gesellschaften grundsätzlich schwertun: für den öffentlichen Intellektuellen kontinentaleuropäischer, in Klinges Fall dezidiert französischer Prägung, der mit bildungsbürgerlichem, durchaus elitärem Selbstbewusstsein auf Geist und Gestalt seiner Heimat einzuwirken sucht.
Im Jahre 1936 in Helsinki geboren, entstammt Klinge väterlicherseits einer im vorrevolutionären St. Petersburg ansässigen deutsch-baltischen Familie. Er besuchte mit dem Normallyzeum eine der herausragenden Schulen des Landes und studierte danach an der Universität Helsinki. 1960 als bester Magister-Absolvent der Universität ausgezeichnet, wurde er 1967 mit einer im Kern ideengeschichtlichen Dissertationsschrift über die studentische Vorstellungswelt in der Entstehungsphase des finnischen Nationalismus promoviert (Kansalaismielen synty, 1967). Auf diese Studie folgten in den anschließenden Jahren Arbeiten zur Geschichte studentischer Organisationsformen im Umfeld der Universität, in denen sich bereits der spätere Historiker seiner Alma mater ankündigt. Die Beschäftigung mit dem Verhältnis von Universität und Nationsbildung formte bereits in den späten 1960er Jahren eine, vielleicht die Konstante in Klinges intellektueller Biographie. Parallel zu seinen Studien zur Universitätsgeschichte übernahm er zwischen 1966 und 1969 als Intendent das Mannerheim-Museum und legte damit den Grund für eine ebenso kontinuierliche Beschäftigung mit Mannerheim, der wohl schillernsten Gestalt der finnischen Geschichte. An die Ernennung zum ‘Dozenten’ (finn. dosentti) 1968 und an einige Auslandsaufenthalte, darunter eine zweijährige Gastprofessur an der Sorbonne, schloss sich 1975 die Berufung auf den schwedischsprachigen Lehrstuhl für Allgemeine Geschichte an, von dem aus er mehr als fünfundzwanzig Jahre das universitäre Leben prägte.
Mit dem frühen Werk Klinges verbinden sich wesentliche Impulse für die finnische Geschichtswissenschaft. ‚Ideengeschichte‘ verstand er nicht nur im eher traditionellen Sinne, sondern erweiterte ihr Spektrum in den eigenen Arbeiten um kultur- und mentalitätsgeschichtliche Ansätze, die er der Annales-Schule und seiner vorzüglichen Orientierung in der französischen Historiographie entlehnte. In der kritischen Auseinandersetzung mit dem Konstruktionscharakter von (finnischer) Nation und Tradition nehmen seine Studien, vor allem der 1970er Jahre, vieles von dem vorweg, was sich ein Jahrzehnt später – unter dem von Eric Hobsbawm eingeführten Diktum der ‘Invention of Tradition’ – als neue Nationalismus-Studien zu etablieren begann. Nicht zuletzt über die Beschäftigung mit diesen Themen fand Klinge zu einer seiner prägenden historiographischen Darstellungsformen, dem pointiert argumentierenden historischen Essay. Seine Essay-Sammlungen wiesen dabei auf die im Entstehen begriffenen größeren historiographischen Arbeiten hin, waren aber zugleich auch Interventionen in das Kulturleben und das politische Selbstverständnis Finnlands. Zu den bleibenden Werken Klinges gehört sicherlich die dreibändige Geschichte der Universität Helsinki von deren Anfängen 1640 als (schwedisch-) Königlicher Akademie zu Åbo (Turku) bis in das Jahr 1990. Wie in seiner Universitätsgeschichte gelang es Klinge auch in seinen biographisch-ideengeschichtlichen Arbeiten zu den intellektuellen Trägern der finnischen Nationsbildung, allen voran Johan Ludvig Runeberg und Zacharias Topelius, die Genese der finnischen Nation in den regionalen und internationalen Zusammenhang überzeugend einzubetten (Runebergs två fosterland, 1983; Den politiske Runeberg, 2004; Idylli ja uhka. Topeliuksen aatteita ja politiikkaa, 1998). Auch sein Überblick zur finnischen Geschichte aus dem Jahre 1977 wurde dutzendfach neu aufgelegt und liegt mittlerweile als Übersetzung in gut zwanzig Sprachen vor, darunter auch im Deutschen. Sämtlichen Arbeiten war dabei die selbstbewusste Absicht gemein, den engen Grenzen nationaler Historiographie den Entwurf einer Geschichtsschreibung mit dezidiert europäischem Horizont gegenüberzustellen.
In der Rückschau muss angesichts dessen auch sein intellektuelles Ausgreifen in den Ostseeraum als folgerichtig erscheinen. Schon 1983, zu einem Zeitpunkt also, als der Kalte Krieg die Beschäftigung mit der Ostsee als nicht unbedingt naheliegend erscheinen ließ, befasste er sich mit Vorarbeiten zu einer systematischen Geschichte des Ostseeraums. Früh geriet Klinge daher zum Stichwortgeber eines Diskurses, der insbesondere in den 1990er Jahren an Bedeutung gewann. 1995 erschien seine ‘Die Ostseewelt’ (Itämeren maailma), ein auf engstem Raum entwickelter, ebenso ambitionierter wie konziser Ansatz, die Region in ihrer Gesamtheit zu begreifen. Vor allem in Deutschland war der Arbeit einiges an Resonanz beschert, wie nicht nur anhand einiger Neuauflagen der deutschen Übersetzung deutlich wird, sondern auch an der historiographischen Wertschätzung, die dem Werk entgegengebracht wurde. Besonders erfreut zeigte sich Klinge, dass der Leipziger Osteuropahistoriker Stefan Troebst sein Bemühen, Russland als historisch gewachsene, selbstverständliche Größe des Ostseeraumes zu deuten, ausdrücklich würdigte und in einen breiteren historiographiegeschichtlichen Horizont einbettete. In Troebsts Lesart erscheint Klinge nicht nur in der Tradition Fernand Braudels, sondern gleichsam als dessen – im weitesten Sinne – ‘baltisches’ Pendant.
Klinges Sicht auf Russland und die russisch-finnischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert läuft den im postsowjetischen Ost- und Ostmitteleuropa etablierten Prämissen ebenso zuwider wie den Entwicklungen in der finnischen Gesellschaft, von der Außen- und Sicherheitspolitik Finnlands und der Europäischen Union ganz zu schweigen. Für den Exorzismus, mit dem ein Teil der (jüngeren) kulturellen Elite des Landes sich des Erbes eines vermeintlich ‘finnlandisierten’ Finnlands entledigte, hatte er kein Verständnis, erschien ihm dies doch als ahistorische Ausflucht einer mit den Bedrängnissen des existentiell gefährdeten Kleinstaats nicht mehr vertrauten Generation. Überhaupt deutete er die russisch-imperiale Dimension der finnischen Staats- und Nationsbildung – grosso modo – als Form wohlwollender Herrschaft, wie der dritte Band der (schwedischsprachigen) Geschichte Finnlands zu erkennen gibt (Kejsartiden, 1996). Selbst etablierte Begriffe wie jenen der Russifizierung, hier bezogen auf das späte Zarenreich unter Nikolaus II., lehnte er als nationalistisches Kampfvokabular ab. Im Verbund mit Osmo Jussila stellte Klinge das unzulässig vergröbernde Russlandbild, wie es in der finnischen Öffentlichkeit vorherrschte, ein ums andere Mal fundamental in Frage. In Debatten sah er sich dabei insbesondere seit den 1990er Jahren wiederholt dem Anwurf der Russland-Apologetik ausgesetzt. Im Ton schriller wurde dies vor allem nach der russischen Annexion der Krim 2014, die Klinge für die nachträgliche Korrektur einer strategischen Fehlkalkulation der Sowjetzeit hielt. Ähnlich kontrovers äußerte er sich in anderen Zusammenhängen, wenn es etwa um die überschaubare politisch-kulturelle Reichweite des finnischen Bezugs zum ‘Norden’ ging. Hier brachte er bereits ein Jahr nach dem EU-Beitritt Finnlands nahezu das gesamte schwedischsprachige Milieu des Landes gegen sich auf, als er die These lancierte, der ‘Norden’ sei für das Gros der Finnen weniger relevant als die bereits erfolgte Integration des Landes in die EU. Im Ruhestand setzte er die politischen Interventionen fort, nicht selten in den ‘Tagebüchern’, die er seit 1999 alljährlich vorlegte. Im letzten Jahrzehnt machte Klinge sich außerdem daran, seine Erinnerungen aufzuzeichnen – zusammengenommen sechs Bände, in denen sich die dichte Autobiographie eines Repräsentanten eben jenes europäischen Bildungsbürgertums spiegelt, zu dessen Genese und Zenit er bereits um die Mitte der 1980er Jahre gearbeitet hatte (Porvariston nousu, 1985).
Dem debattierfreudigen öffentlichen Intellektuellen stand stets der einfühlsame akademische Lehrer gegenüber. Dutzende der heute profilierten finnischen Historiker, vor allem jene aus dem Umfeld seines eigenen Helsinkier Lehrstuhls, verlieren mit Matti Klinge einen vorbildlichen Doktorvater der alten Schule, der ganze akademische Karrieren mit einer Mischung aus wohlwollender Ironie (auch gegen sich selbst), ebenso instinktsicherem wie routiniertem Rat und gleichsam väterlichem Erwartungsdruck begleitete. Sein Verhältnis zu den eigenen Studenten hatte auch etwas unnachahmlich Liebenswertes. Bis zur Emeritierung im Jahre 2001 machte er es sich beispielsweise zur Aufgabe, die Erstsemester zu Beginn des akademischen Jahres über den Campus der Universität zu führen und sie mit ihrer künftigen Alma mater auch und gerade als kulturellem Ort vertraut zu machen. Wer es bis zur Promotion brachte, wurde eines Rituals gewahr, das Klinge sich in den 1990er Jahren zugelegt hatte, als einer seiner Promovenden in einer stundenlangen Disputation wegen Unterzuckerung körperlich zusammengebrochen war. Seitdem schlich der Professor kurz vor jeder Disputation in die Nebenkammer des Hörsaals, in der der mit Frack ausstaffierte Promovend nervös seinem Schicksal entgegensah, und überreichte dem Schüler verschmitzt lächelnd eine Tafel schwarzer Schokolade – “für den Fall, dass es sich heute etwas zieht.” Neben der außergewöhnlichen geistigen und habituellen Prägekraft Klinges erklärt sich die Anhänglichkeit seiner ehemaligen Studenten und Schüler auch und gerade aus solchen kleinen Gesten des gelebten akademischen Alltags. Einer wie er wird sich im universitären Milieu Finnlands wie in der Öffentlichkeit des Landes nicht wieder finden.
Über den Autor:
Michael Jonas ist einer der letzten Doktoranden Matti Klinges (und einer der ersten von dessen Nachfolger Henrik Meinander). Er ist 2009 am Historischen Institut der Universität Helsinki mit einer Arbeit zu den deutsch-finnischen Beziehungen promoviert worden, die maßgeblich auf Klinges Betreiben zurückgeht. Heute lehrt und forscht Jonas an der Helmut-Schmidt-Universität, Universität der Bundeswehr, Hamburg, u.a. auch zur nordeuropäischen Geschichte, und ist zugleich ‘dosentti’ an der Universität Helsinki.