Reaktion auf Thorkild Kjærgaard: „Paranoide kritikere af Rusland har ført os ud i et politisk hængedynd“

von NORDfor

Bernd Henningsens Reaktion auf den Artikel in Politiken: Debat, 18. Juli 2016,
http://politiken.dk/debat/debatindlaeg/article5630239.ece

Wenn in einer großen meinungsbildenden Zeitung eine Expertenansicht veröffentlicht wird, deren Autorität und Kompetenz damit untermauert wird, dass dieser Experte als „Historiker, Dr. phil.“ vorgestellt wird, dann wird das allgemeine Publikum wohl davon ausgehen, dass Seriosität angesagt ist. Leider ist dieser Beitrag von Seriosität weit entfernt, und man darf sich wundern, wieso eine Redaktion dieses ohne Fragezeichen oder gar Kommentare abdruckt.

Thorkild Kjærgaards steile These ist, dass den Großmächten – in diesem Falle Russland, China erwähnt er nicht – zugestanden werden muss, dass es einen Nahbereich um das jeweilige Territorium herum gibt, in dem sie schalten und walten können, wie sie wollen. Als paradigmatisches Moment der Weltgeschichte führt er die Monroe-Doktrin von 1823 an, mit der der US-Präsident James Monroe – wie wir alle aus dem Geschichtsunterricht wissen – für die USA ein Interventionsrecht für den amerikanischen Kontinent reklamierte, zugleich eine isolationistische Politik für andere Weltregionen definierte und vor allem anderen Nationen eine Einmischung in amerikanische Politik verwehrte (damit waren vor allem Russland im Nordwesten, England und Frankreich in Mittel- und Südamerika gemeint). Die negativen Folgen dieser Doktrin benennt er mit der US-Intervention in Chile 1973, „wo die CIA einen demokratisch gewählten Präsidenten stürzte …“ („ … hvor CIA styrtede en demokratisk valgt præsident …“).

Dass es heute state of the art ist, dass die „Monroe Doctrine, like the word of God, meant many things to different people at different times“ (Gaddis Smith), davon schimmert bei Kjærgaard nichts durch, er erwähnt auch nicht die politische Situation in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der die Doktrin entstehen konnte (vor allem die Nationsbildung in Süd- und Mittelamerika, für die die Gefahr der Intervention europäischer Mächte bestand); er nennt auch keine weiteren Beispiele für die nützlichen oder die schlimmen Folgen der Doktrin. Er hätte vielleicht auf den Gedanken kommen können, dass die USA zweimal im vorigen Jahrhundert die Isolationspolitik der Monroe-Doktrin vor unserer, vor seiner Haustür durchbrochen hat – mit dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg 1917 und dem Eintritt in den Zweiten Weltkrieg 1941; Thorkild Kjærgaard wäre dann bei seinen Spekulationen vielleicht auf den Gedanken gekommen, dass ohne diese US-Beteiligung das Deutsche Reich jeweils eine realistische Chance gehabt hätte, die Kriege zu gewinnen. Wäre es ihm dann lieb gewesen, im Nahbereich des geschätzten Nachbarn Deutschland zu leben? Vortrefflich lässt sich fantasieren, wenn es nicht den eigenen Vorgarten betrifft.

Man muss ernsthafte Zweifel anbringen, wenn der Autor schreibt, dass es

„ein recht umfassendes Erfahrungsmaterial aus dem Laufe der letzten 300 Jahre gibt, das zeigt, dass, wenn man Russland gewisse freie Hände in den Gebieten gibt, die heute von den baltischen Staaten – Polen, Rumänien und Bulgarien sowie, natürlich, Weißrussland und die Ukraine – auf die gleiche Weise, wie es die USA auf der amerikanischen Halbkugel haben, dann ist Russland ein stabiler und konstruktiver Mitspieler in der europäischen Politik.“[1]

Für die russische Großherzigkeit in ihrem Nahgebiet, für eine 300jährige Stabilität Russlands für die europäische Politik gibt der Historiker einen Beleg, den, nach seiner Ansicht ganz und gar freiwilligen Truppenabzug aus dem von der Sowjetunion besetzten Bornholm 1946 …

Man fragt sich bei der Lektüre dieser Sätze, worüber man sich mehr wundern soll – über die Ungeheuerlichkeit, mit der hier ein Autor Geschichtsklitterungen verbreitet, die komplett aus dem Putinschen Medienimperium zu kommen scheinen, oder über die Naivität einer Zeitungsredaktion, die diesen Unfug abzudrucken für nötig hält. Keine Rede ist von dem von Stalin inszenierten Holomodor (Völkermord durch Hunger) in der Ukraine, der 1932/33 schätzungsweise 3,5 Millionen Tote zur Folge hatte, keine Rede von dem Schicksal der Baltenflüchtlinge am Ende des Zweiten Weltkrieges, von den Massendeportationen am Anfang des Kalten Krieges aus den baltischen Staaten, er erwähnt nicht die Staatscups 1945/1948 in der DDR, Polen, Tschechoslowakei, den Schauprozessen vor und nach dem Krieg, den niedergeschlagenen Volksaufständen in der DDR, Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei, der relativ erfolgreichen(!) Herauslösung Jugoslawiens aus dem sowjetischen „Nahbereich“; es gibt keine Rede von den Cyberattacken auf Estland nach der Umsetzung eines Kriegerdenkmals in Tallinn 2007, und natürlich gibt es keine Erwähnung der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim ab 2014 und des Krieges in der Ostukraine, dem auf ukrainischer Seite wöchentlich zehn Menschen zum Opfer fallen. Das Putinsche Russland hat beginnend mit diesem Dezennium die globale Völkerrechtsgrundlage unserer Moderne aufgekündigt – so sieht also ein „konstruktiver und stabiler Mitspieler der europäischen Politik“ aus! Mit Verlaub, das ist ungeheuerlich, wenn es nicht schlichtweg dumm ist; das ist, noch schlichter: Propaganda.

Wer heute durch die Ukraine fährt, und das ist mein ganz aktuelles Erfahrungsmaterial, der erfährt, was in dieser Nation vor sich geht: Sie leidet an der Korruption der herrschenden wirtschaftlichen und politischen Eliten; aber sie sucht nach unserer, nach der westlichen Solidarität, und sie fragt jeden, der zuhören kann und will, was sie denn tun können, um als das anerkannt zu werden, als das sie sich selbst sehen – als integraler Bestandteil der westlichen, der europäischen Zivilisation und nicht als zu manipulierende Schachfigur im Nahbereich einer Großmacht, die es nicht schafft, sich selbst zu modernisieren – weil die herrschenden wirtschaftlichen und politischen Eliten korrupt sind. Mir scheint, dass in keinem europäischen Land zur Zeit mehr EU-Fahnen an öffentlichen und privaten Gebäuden aufgezogen sind als in der Ukraine – in Zeiten, in denen es in so gut wie allen europäischen Ländern chic geworden ist, der EU den Garaus zu wünschen, kann man es nicht laut genug sagen: In der Ostukraine sind mittlerweile um die 10.000 Zivilisten und Soldaten zu Tode gekommen – in der Ukraine wird für Europa gestorben (die russischen Toten werden heimlich zurücktransportiert, und ihren Nachkommen wird vom russischen Staat nur dann eine Rente gezahlt, wenn sie nicht fragen). Und in London, in Kopenhagen, in Paris, in Wien sehnt man sich gleichzeitig das Ende der Nachkriegs-Solidaritätsgemeinschaft herbei. Noch beschämender aber ist die Frage der Ukrainer an uns: Was tut ihr eigentlich für uns?

Prof. em. Dr. Bernd Henningsen, Nordeuropa-Institut, Humboldt-Universität zu Berlin

[1] „[Men der findes et efterhånden] ret omfattende erfaringsmateriale opsamlet i løbet af de sidste 300 år, som viser, at hvis man giver Rusland nogenlunde frie hænder i det område, der i dag dækkes af de baltiske stater – Polen, Rumænien og Bulgarien samt, naturligvis, Hviderusland og Ukraine – på samme måde, som USA har det på den amerikanske halvkugle, så er Rusland en stabil og konstruktiv medspiller i europæisk politik.”