Riga wird schwedisch (1621)

von NORDfor

von Ralph Tuchtenhagen

Der Beitrag erinnert an die Eroberung und Besetzung der Hansestadt Riga durch Schweden im Jahre 1621. Sie stellte einen der Marksteine auf dem Weg des jungen Reiches zur europäischen Großmacht und eine unabdingbare Grundlage für Schwedens späteren Eintritt in den Dreißigjährigen Krieg dar. In der Erinnerungspolitik Schwedens und Lettlands spielt das Ereignis heute keine Rolle mehr. Für ein Verständnis des Aufstiegs Schwedens im 17. Jahrhundert ist es jedoch von eminenter Bedeutung.

Am 24. Juli 1621 setzten im Stockholmer Hafen 148 Kriegsschiffe Segel und nahmen Kurs auf Livland. Ziel war die Hansestadt Riga. Unter dem Befehl des schwedischen Königs Gustav II. Adolf (reg. 1611‑1632) und seines Halbbruders Reichsadmiral Gustav Gyllenhielm (1574‑1650) transportierten die Schiffe eine beachtliche Zahl Landungstruppen und eine Menge Kriegs- und Versorgungsmaterial. Vor Kap Kolka (schwed. Domesnäs), der Einfahrt in den Rigaschen Meerbusen gegenüber der Insel Ösel, verlor die Flotte in einen Sturm zehn Schiffe, andere liefen auf Grund. Der im Rigaschen Meerbusen in alle Himmelsrichtungen zerstobene Rest konnte sich erst wieder am 4. August 1621 vor dem Mündungsdelta der Düna sammeln. Bis zum 8. August wurden Soldaten bei Dünamünde und am Mühlgraben ausgeschifft.

Man grub sich ein, legte Viereckschanzen und Laufgräben an. Später sollten sie zum Grundriss für den Bau der schwedischen Festung Riga dienen (noch heute sind sie im Stadtbild als Parkanlagen rund um den ältesten Teil der Stadt erkennbar). Erstes Opfer des schwedischen Angriffs wurde die mit 150 polnischen Soldaten nur schwach besetzte Festung Dünamünde (lett. Daugavgrīva). Bis zum 10. August 1621 legten die schwedischen Truppen einen Belagerungsring um Riga. Eine am 12. August überbrachte Aufforderung Gustav Adolfs, die Stadt möge sich ergeben und akkordieren, lehnte der Rigasche Rat jedoch ab. Am 13. August befahl der schwedische König die Beschießung der Stadt mit Musketen und Kanonen, während die schwedischen Belagerungstruppen gleichzeitig einer Bedrohung durch das königlich-polnische Entsatzheer mit Hilfe präventiver Störmanöver und Angriffe begegneten. Eine zweite Aufforderung an die Stadt vom 12. September blieb zunächst ergebnislos, doch bequemten sich die Stadtväter nach der schwedischen Androhung des extremum belli (Niederbrennung, Plünderung) zu Kapitulationsverhandlungen. Sie führten am 15. September schließlich zur Übergabe Rigas an die Schweden.

Soweit die nüchterne Aufzählung der zentralen Fakten. Aber woher wissen wir dies alles? Und was bedeutete die schwedische Eroberung Rigas im Kontext ihrer Zeit? Festzuhalten ist, dass sich die Quellenlage recht heterogen darstellt. Wichtige Dokumente sind die Polen-freundliche, aber anonyme Propagandaschrift »Von Eroberung der Haupt Statt Riga in Lieffland«[1], zudem verschiedene Briefe, Anordnungen und Reichstagsprotokolle, aber auch Truppen- und Materiallisten, Karten und Zeichnungen im Militärarchiv (Krigsarkivet) und im Reichsarchiv (Riksarkivet), beide in Stockholm. Der bislang ausführlichste Versuch einer Rekonstruktion der Ereignisse stammt von dem lettischen Exilhistoriker Edgars Dunsdorfs (1904‑2002). Durch Untersuchungen der bildlichen Darstellungen des schwedischen Angriffs ergänzt hat sie der lettische Kunsthistoriker Ojārs Spārītis (*1955).[2]

Der historische Kontext ist komplex. Im Rahmen des zwischen dem Großfürstentum Moskau und den Königreichen Polen-Litauen, Schweden und Dänemark in wechselnden Koalitionen ausgetragenen Livländischen Krieges (1558‑1583) waren 1559 erstmals russische Truppen vor Riga erschienen, hatten es aber nicht gewagt, die Stadt anzugreifen. Als dann aber im weiteren Kriegsverlauf der größte Teil der livländischen konföderierten Territorien (»Alt-Livland«) an Polen-Litauen fiel, musste sich auch die freie Hansestadt Riga dem polnischen König unterwerfen.

Während des Polnisch-Schwedischen Krieges (1600‑1629/35) wurde Riga erneut Ziel von Angriffen. Dieser zweite polnisch-schwedische Krieg vollzog sich vor dem Hintergrund eines Anspruches des polnischen Königs Sigismund Waza (reg. 1587‑1632) auf den schwedischen Thron, den er nach einer 1598 erlittenen vernichtenden Niederlage gegen seinen Onkel Herzog Karl von Södermanland (1550‑1611) in der Schlacht von Stångebro verloren hatte. Sigismund, Sohn des schwedischen Königs Johan III. (reg. 1568‑1592), betrachtete sich gemäß der schwedischen Thronfolgegesetze als legitimen Erben der schwedischen Königsmacht; und er sollte diesen Anspruch bis zu seinem Tode in seiner Herrschertitulatur (Suecorum rex) aller Welt zu erkennen geben. Es war jedoch Herzog Karl, der in Schweden zunächst als Reichsverweser (riksföreståndare) regierte, sich aber 1604 vom Schwedischen Reichstag zum schwedischen König wählen ließ, der seinen Herrschaftsanspruch faktisch durchsetzen konnte.

Der konkrete Anlass für den Kriegsausbruch war gegeben, als Sigismund im Jahre 1600 auch noch die Herrschaft über das von Herzog Karl beherrschte Herzogtum Estland forderte und diese mit Waffengewalt zu erzwingen suchte. Karls Antwort war eine Invasion Polnisch-Livlands, wo sich in den folgenden drei Jahrzehnten auch die meisten Kampfhandlungen abspielen sollten. Als nach dem Tode Karls IX. (1611) dessen 17jähriger Sohn Gustav II. Adolf vom Schwedischen Reichstag zum König gewählt wurde, erbte dieser eine schwierige außenpolitische Situation. Ein Ende des Krieges mit Polen-Litauen war nicht abzusehen. Im Jahr zuvor war das sich verschlechternde Verhältnis zum Großfürsten von Moskau ebenfalls in einen bewaffneten Konflikt übergegangen (Ingermanländischer Krieg, 1610‑1617). Gleichzeitig ergriff der dänische König Christian IV. die unsichere Zeit des Thronwechsels, seinerseits Schweden zu überfallen (1611). Gustav Adolf versuchte sein Glück, indem er den dänisch-schwedischen Krieg mit dem Frieden von Knäred (1613) zu ungünstigen Bedingungen rasch beendete und immerhin den Dreifronten- in einen Zweifrontenkrieg verwandelte. Mit Moskau erreichte er 1617 einen für Schweden überaus vorteilhaften Friedensvertrag (Friede von Stolbovo 1617), der im Kern besagte, dass die Grenze zum Großfürstentum weit weg von der Ostseeküste ins nordosteuropäische Binnenland verschoben wurde. Währenddessen war jedoch eine längere Phase schwedisch-polnischer Waffenstillstände (1612‑1616) zu ihrem Ende gekommen und in neue Kampfhandlungen gemündet, die sich nun auch wieder gegen die Stadt Riga richteten.

Ein erster Versuch der Schweden am 23. und 24. Juli 1617, die lutherische und Polen-feindliche, aber von den Jesuiten als wichtigstes Zentrum der Gegenreformation im Nordosten Europas genutzte Stadt zu erobern, scheiterte. Nachdem ein weiterer, 1618 vereinbarter Waffenstillstand mit Polen-Litauen am 11. November 1620 ausgelaufen war, leitete Gustav Adolf jedoch eine zweite Offensive gegen das stark befestigte, aber von Soldaten entblößte Riga ein. König Sigismund konnte, da Polen-Litauen gleichzeitig mit dem Osmanischen Reich im Krieg lag, nur schwachen Entsatz bieten. Die Einnahme der Stadt durch die Schweden erwies sich bald als unausweichlich.

Die Eroberung Rigas, von den Schweden gut vorbereitet und mit beeindruckendem Tempo vorgetragen, war bereits den Zeitgenossen ein Ereignis von europäischem Rang. Sie begründete den Waffenruhm Gustav Adolfs und Schwedens weit über den Ostseeraum hinaus. Und sie legte den Grundstein zur Architektur eines schwedischen Ostseereiches, das mit dem neun Jahre später erfolgten Eintritt in den »Teutschen Krieg« seinen Status als Regionalmacht kraftvoll überschreiten sollte. Die Herrschaft über Riga, mit 30.000 Einwohnern dreimal so bevölkerungsstark wie die zu dieser Zeit aufstrebende schwedische Hauptstadt Stockholm (8000‑9000), der Rigasche Getreidehandel, munter daraus sprudelnde Zolleinnahmen und die Kredite finanzkräftiger Rigaer Kaufleute stellten die Ressourcen dar, die nach dem schwedisch-polnischen Waffenstillstand von Altmark (1629) den Waffengang im Heiligen Römischen Reich überhaupt erst ermöglichten. Nach 1630 sollten schwedische Armeen und internationale Söldnerarmeen unter schwedischer Führung mit Rigaer Geld und Viktualien bis an die Alpen marschieren. Mit dem Friedensschluss von Osnabrück (Westfälischer Friede 1648) etablierte sich Schweden neben Frankreich als Garantiemacht einer europäischen Friedensordnung, die bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts Bestand haben sollte und die dem letzten großen Religionskrieg Europas ein dezidiertes Ende setzte.

Das alles ist lange her. Aber das historische Gedächtnis bleibt hartnäckig, und Erinnerungskultur und Histotainment tun das ihre, um den zeitlichen Abstand von 400 Jahren zu einer unaufgeregten, kaum einstündigen Flugreise von Stockholm nach Riga zusammenschrumpfen zu lassen. Und allemal darf man an diesen Markstein auf Schwedens Weg zur europäischen Großmacht in einer kulturwissenschaftlichen Zeitschrift wie dem NORDEUROPAforum erinnert werden. Wie seit hunderten Jahren pilgern schwedische und finnische Sehnsuchtstouristen durch das aus einer späteren Phase schwedischer Herrschaft stammende »Schwedentor« der Rigaer Stadtmauer und schwelgen gemeinsam mit geschichtsbewussten Letten und Deutschen in Erinnerungen an die »gute, alte Schwedenzeit«. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die historische Wegscheide von 1621, die zugleich einen Markstein der modernen Geschichte Lettlands darstellt, in Lettland selbst heute weitgehend vergessen ist. Die Suche nach diesbezüglichen Memorialien und Gedenkfeiern gestaltet sich mühsam. Das hat nicht zuletzt auch damit zu tun, dass sich die lettische historische Forschung außer des Lettischen fast nur noch des Englischen als Wissenschaftssprache bedient. Deutsch, 700 Jahre lang die Sprache der historischen Dokumente des Landes, beherrschen in Lettland heute fast nur noch Archivare und Museumsleute. Und Schwedischkenntnisse, auch sie unverzichtbar für die Kenntnis der livländisch-lettischen Geschichte des 17. Jahrhunderts, sind eine wissenschaftliche Kompetenz, die nurmehr Liebhaberstatus besitzt. Auch deshalb wissen heute Deutsche und Schweden oft mehr über das Jahr 1621 als die Rigenser und Letten selbst. Soll man dem Urteil Ojars Sparitis‘ beipflichten, der meint:

»Für die langfristige konfessionelle Orientierung der Stadt Riga und für die Verbindungen Livlands mit dem mittel- und westeuropäischen Kulturraum zu Beginn des 17. Jahrhunderts war dieser Sieg von großer Bedeutung. Für einen kurzen Zeitraum, nur hundert Jahre lang, trug er zur Erstarkung der Identität der baltischen Völker und zur Herausbildung eines der Keime des europäischen Liberalismus unter der Obhut einer aufgeklärten Monarchie bei«?[3]

Dies würde möglicherweise auch bedeuten, dass Polen und Litauen nicht zum »mittel- und westeuropäischen Kulturraum« gehört hätten, dass die »Identität der baltischen Völker« nicht erst mit den Agrarreformen und Bauernbefreiungen des 19. Jahrhunderts entstanden wäre und dass es sich bei den schwedischen Königen des 17. Jahrhunderts durchweg um »aufgeklärte« Monarchen gehandelt hätte. Schimmert hier nicht wieder einmal der in Lettland bis heute gern gepflegte Mythos von der »guten alten Schwedenzeit« (lett. vecie labie zviedru laiki) durch? Darüber ließe sich trefflich streiten – wenn es nur jemanden gäbe, der sich darauf verstünde.


[1] (Anonymus:) De expugnatione civitatis Rigensis Livoniae metropolis […], Riga 1622 (dt. : Von Eroberung Der Haupt Statt Riga in Lieffland […], Riga 1622).

[2] Latvijas vēsture [Geschichte Lettlands, R.T.], Bd. 2 1600‑1710, Uppsala 1962, S. 28‑34. Ojārs Spārītis: Die kartographische Darstellung der Belagerung Rigas von Georg Schwengeln (1621) als kulturhistorisches Zeugnis, in: Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit (hg. v. Arbeitskreis Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit) 16 (2012), 1, S. 68‑92.

[3] Sparitis, Kartographische Darstellung, S. 92. 

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