Schwedens neue Regierung – Inhalt und Bedeutung einer historischen Zäsur

von Sven Jochem

Der Sozialdemokrat Stefan Löfven sah aus wie ein geprügelter Hund. Dabei wurde er soeben erneut zum schwedischen Ministerpräsidenten gewählt. Diese Wahl beendete eine lange Regierungskrise. Die Sozialdemokratie konnte erfolgreich die bürgerliche Allianz auseinanderdividieren und so die Weichen für ein neues Muster des schwedischen Parteienwettbewerbs stellen. Eigentlich hätte Stefan Löfven strahlen können. Aber es macht den Anschein, dass er weiß, welchen Preis er für diesen Erfolg zahlen musste und vielleicht noch weiter zu zahlen haben wird.

Seit der Reichstagswahl vom 9. September 2018 gab es zahlreiche Versuche, eine Minderheitsregierung zu bilden. Eine Chronologie der Ereignisse ist hier nachzulesen. Erst im dritten Anlauf – von insgesamt vier möglichen Versuchen vor einer Neuwahl – gelang die Regierungsbildung am 18. Januar 2019. Und es ist zu erwähnen, dass die neue Regierung mehr Nein-Stimmen (153) bekam als Ja-Stimmen (115). Aufgrund von 77 Enthaltungen kam es nach den Regeln des negativen Parlamentarismus jedoch nicht zu einer Mehrheit gegen die Regierung und deshalb zur erfolgreichen Wahl.

Noch nie in der schwedischen Nachkriegsgeschichte kam es so vielen erfolglosen Anläufen einer Regierungsbildung. Noch nie in der Nachkriegsgeschichte zog sich die Regierungsbildung so in die Länge. Und die erfolgte politische Zäsur, das Auseinanderbrechen der bürgerlichen Allianz, kann sich als eine der bedeutsamen Weichenstellungen in der Dynamik der schwedischen Demokratie herausstellen. Die tatsächliche Reichweite der Ereignisse für die schwedische Demokratie lässt sich konkret an drei Punkten ablesen:

Erstens hat nun die schwedische Sozialdemokratie die bürgerliche Allianz aufspalten können. Seit der Reichstagswahl von 2006 dominierte die bürgerliche Allianz als (relativ) geschlossene Gruppierung die Reformpolitik des Landes. Die Zentrumspartei und die Liberalen haben jetzt maximale Ziele in einem gemeinsamen Papier der rot-grünen Regierung und der Mitteparteien durchsetzen können. Eine Neujustierung des Arbeitsrechtes soll angegangen werden (hierzu soll eine Kommission die Vorarbeiten leisten, bis 2021 sollen die Reformen umgesetzt werden). Aber vor allem die weiteren Steuersenkungen (für die oberen Einkommensschichten) widersprechen dem sozialdemokratischen Wahlkampf eindeutig, ebenso wie die Abschaffung der sogenannten Reichensteuer oder die erzwungene Akzeptanz von privatwirtschaftlichen Gewinnen im Bereich der sozialen Humandienstleistungen.

Eine rein numerische Auswertung des Positionspapiers zeigt, dass von den 73 aufgeführten Punkten 28 Punkte allein aus dem Wahlmanifest der Liberalen entstammen (vor allem aus dem Bereich der Bildungspolitik) und 27 Punkte aus dem Wahlmanifest der Zentrumspartei (Arbeit, Wirtschaft und ländliche Regionen sind hier die Themen). Die Erfolge der Grünen Partei sind ebenso deutlich bei der Umwelt- und Klimapolitik zu erkennen (die Einführung einer Flugsteuer und die Zusage einer „grünen“ Steuerpolitik sind Beispiele). Dagegen fallen die Erfolge der Sozialdemokratie überschaubar aus. Es geht um geringe Verbesserungen in den Bereichen Elternversicherung sowie Rente. Vor allem fällt auf, wie oft die Sozialdemokratie von ihren Versprechen aus dem Wahlkampf abrückte. Die Sozialdemokratie hat sich mit diesem Papier und durch die Kompromisse mit den Mitteparteien und der Grünen Partei bis an den Rand der programmatischen Selbstverleugnung bewegt.

Zweitens ist die rot-grüne Minderheits-Regierung unter Duldung der Mitteparteien sehr fragil. Eine Mehrheit von 44 Prozent der Bevölkerung traut es dieser Minderheitsregierung nicht zu, die Legislaturperiode zu überstehen. Und nur 49 Prozent der sozialdemokratischen Anhängerschaft glaubt, dass die Regierung bis zur nächsten Wahl 2022 halten wird. Immerhin hat Stefan Löfven aber jetzt das Instrument einer von ihm jederzeit auslösbaren Neuwahl in der Hand.

Gerne übersehen wird allerdings in der öffentlichen Berichterstattung, dass erstens die weitere Kooperation zwischen rot-grüner Regierung und den Zentrumsparteien aufgrund ihrer programmatischen Differenzen problematisch sein sind. Es wird vor allem aber zweitens übersehen, dass die Parteien für ihre Reformen noch eine weitere Partei als Mehrheitsbeschafferin benötigen. Auch im Minderheitsparlamentarismus benötigen Reformen eine parlamentarische Mehrheit. Und wenn die Mitteparteien eine Kooperation mit der Linkspartei aus strategischen Gründen ablehnen (was kurz vor der Wahl noch zu erheblichen Turbulenzen zwischen Sozialdemokratie und Linkspartei führte), wer bleibt dann noch übrig? Stefan Löfven steht vor einer Quadratur des Kreises. Er muss sehr viele Bälle gleichzeitig in der Luft halten, will er Reformen durchsetzen. Diese neue Minderheitsregierung unter Stefan Löfven kann als die schwächste in der schwedischen Nachkriegsgeschichte eingestuft werden.

Somit geht, drittens, die schwedische Sozialdemokratie ein immenses strategisches Risiko ein. Zwar war sie erfolgreich beim Aufbrechen der bürgerlichen Allianz. Aber sie regiert jetzt mit einem genuin libertären Programm. Wer vertritt in der politischen Arena jetzt noch die Interessen der unteren Einkommensschichten? Das könnte zum einen die Linkspartei sein. Aber deren postmaterialistisches Politikprofil rückt sie näher zum Themenspektrum einer grün-liberalen Partei. Also werden es vor allem die Schwedendemokraten sein, die sich den Interessen des sprichwörtlichen „kleinen Mannes“ annehmen. Sie haben ein genuin sozialpolitisches Politikprofil, wenn es auch vor allem auf die Schwedinnen und Schweden ausgerichtet ist, nicht den zahlreichen Menschen mit Migrationshintergrund.

Darin besteht jetzt die größte Gefahr für die schwedischen Sozialdemokraten: Der Preis für die historische Zäsur könnte so groß werden, dass sich die Schwedendemokraten weiter auf sozialpolitischen Feldern profilieren und sie so die Sozialdemokraten mit ihren Kompromissen vor sich hertreiben können. Dann wäre der Weg frei für eine weitere Stärkung der Schwedendemokraten. Und der Weg wäre frei für eine Entwicklung, wie sie in Dänemark oder Norwegen schon lange zu besichtigen ist. In beiden Ländern sind die Radikal-Nationalisten längst in der guten Stube des bürgerlichen Regierens angekommen. Und sie können durchaus mit Erfolg das politische Profil ihrer Länder in Richtung geschlossene Gesellschaft und Wohlfahrtschauvinismus gestalten. Was wäre dann für die Sozialdemokratie gewonnen? In einem solchen Falle befände sich die Sozialdemokratie in der schlechtesten aller möglichen Welten.

Deshalb erscheint es nur folgerichtig, dass Carl Schlyter, einer der prominentesten Vertreter der Grünen Partei, nach der Übereinkunft zwischen rot-grüner Regierung und den Mitteparteien seinen Austritt aus der Grünen Partei bekannt gab. Er hatte einen Weg in die Opposition vorgeschlagen, um von dort aus die Zusammenarbeit der bürgerlichen Allianz mit den Schwedendemokraten zu kritisieren. Für ihn kann die gewählte Strategie der rot-grünen Regierung nur zu einer „Katastrophe im Jahr 2022“ führen, in dem der nächste Reichstag gewählt werden wird.

Es bleibt wie immer offen, was in der Zukunft geschehen wird. Aber erst durch diese drei Punkte wird verständlich, warum Stefan Löfven nach seiner Wahl eher wie ein geprügelter Hund in die Kameras schaute. Auf ihm ruhen gewaltige Erwartungen. Er muss viele Bälle in einer hochkomplexen Verhandlungsdemokratie in der Luft halten (und davon ausgehen, dass seine Mitspieler nur zögerlich kooperieren werden). Er muss bei jeder Reform in unterschiedlichsten Richtungen Kompromisse schmieden. Er muss dabei seiner Partei Zugeständnisse abringen, die an den Kern des sozialdemokratischen Selbstverständnisses reichen.

Das schwedische Modell wandelt sich gerade in zentralen Dimensionen. Dieser Wandel birgt die Hoffnung auf eine neue Logik des Parteienwettbewerbs, weg vom rigorosen Blockwettbewerb, hin zu einer blocküberschreitenden Kooperation. Er birgt aber auch die Gefahr, dass die Sozialdemokratie an dieser Aufgabe scheitert, die Partei im inneren zerrissen wird und die Schwedendemokraten sich als stärkste Kraft im Lande profitieren können. Deswegen war Stefan Löfven nach der Wahl überhaupt nicht zum Feiern zumute.

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