Regierungskrise in Schweden – eine historische Zäsur kündigt sich an

von Sven Jochem

Die publizierte Öffentlichkeit im deutschsprachigen Raum reibt sich die Augen: Seit über drei Monaten, seit der Reichstagswahl am 9.  September 2018, ist es den schwedischen Parteien nicht gelungen, eine neue Regierung zu bilden. Und das, obwohl die Schwedinnen und Schweden von uns doch als so »hygge«, so pragmatisch und so konsensual wahrgenommen werden. Selbst die NZZ fragt ratlos: Was ist los mit Schweden? Dabei ist das, was gerade in Schweden vor sich geht, keineswegs neu. Und zudem ist es auch nicht einzigartig. Die langwierige Suche nach einer Regierung in Schweden ist die Folge einer grundlegenden Änderung der politischen Konfliktlinien in einer Verhandlungsdemokratie mit vorzugsweise Minderheitsregierungen.

Am 12. Dezember 2018 verabschiedete der Reichstag mit einer relativen Mehrheit einen Haushalt für das das Jahr 2019. Die Konservative Partei und die Christdemokraten konnten sich mit der Unterstützung der radikalnationalistischen Schwedendemokraten gegen den Haushaltsentwurf der kommissarisch amtierenden rot-grünen Minderheitsregierung durchsetzen. Damit werden Steuersenkungen (u.a. auf Benzin und Kerosin sowie haushaltsnahe Dienstleistungen und Renteneinkünfte) sowie eine Absenkung der steuerlichen Unterstützung von Mitgliedschaften in den Gewerkschaften festgeschrieben. In Schweden muss der Haushalt zu einem bestimmten Termin vom Reichstag verabschiedet sein, um für das folgende Jahr wirksam werden zu können, die Regierungsbildung hingegen kann sich theoretisch bis zur kommenden Wahl im Jahr 2022 hinziehen.

Nachdem die Opposition mit Unterstützung der Schwedendemokraten am 25. September 2018 den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Stefan Löfven abwählte, ist die rot-grüne Minderheitskoalition lediglich kommissarisch tätig. Einen Tag zuvor gelang es den Konservativen, ihren Kandidaten Anreas Norlén mit Unterstützung der anderen bürgerlichen Parteien sowie der Schwedendemokraten zum Parlamentspräsidenten (»talmannen«) wählen zu lassen. Der Parlamentspräsident ist federführend für die Bildung einer Regierung in Schweden. Einen Überblick über die Ereignisse bietet Dagens Nyheter an, (allerdings hinter der Bezahlschranke).

Die gegenwärtige Zuspitzung der politischen Konfrontation ist aber nicht neu für Schweden, teilweise ist die jetzige Entwicklung auch eine Folge des Minderheitsparlamentarismus. Bereits die 2014 frisch gewählte rot-grüne Minderheitsregierung musste mit einem Haushalt der Opposition leben. Dies wurde möglich, da die Schwedendemokraten damals mit einer ungeschriebenenTradition brachen: Während in einem ersten Wahlgang alle Parteien und Parteienbündnisse für ihren eigenen Haushaltsentwurf und gegen den Haushaltsentwurf der Gegenseite stimmten, war es Tradition, dass sie sich in einem zweiten Wahlgang beim Haushaltsentwurf der Minderheitsregierung enthalten und so einen Haushalt mit relativer Mehrheit für die Minderheitsregierung ermöglichen. In diesem Jahr konnte die bürgerliche Allianz mit Unterstützung der Schwedendemokraten wie 2014 einer Regierung den Haushalt diktieren.

Historische Zäsur

Das Zögern und Taktieren der Parteien bei der Regierungsbildung ist mehr als verständlich, steht das schwedische Parteiensystem doch vor einer bedeutsamen, wenn nicht gar historischen Zäsur. Oft ist in der Berichterstattung Unverständnis darüber zu erkennen, dass sich die vermeintlich pragmatischen und konsensgeneigten Parteien nicht einigen können oder – wie einige Kommentatoren vermuten – wollen. Solche vereinfachenden Interpretationen verkennen die Funktionsweise von Verhandlungsdemokratien im Allgemeinen sowie die Bedeutung dieser Regierungsbildung für den schwedischen Parteienwettbewerb und die Funktionsweise des schwedischen negativen Parlamentarismus im Besonderen.

Verhandlungsdemokratien erfordern immer vielfältige – sowie zeitaufwendige – Verhandlungen, vor allem dann, wenn sich die Parteienlandschaft diversifiziert. So dauern die Regierungsbildungen in den Niederlanden, in Belgien aber auch in Italien oder Österreich deutlich länger als es in Schweden bislang der Fall war. Je mehr Parteien existieren und je divergenter die Interessen werden, desto langwieriger werden die Verhandlungen. Und die Langwierigkeit der Entscheidungsfindung ist ja durchaus ein Kennzeichen der Demokratie, in der es ja nicht wie an der Börse um Schnelligkeit geht, sondern um den Ausgleich von teilweise weit auseinander liegenden Interessen.

Das schwedische und viele andere europäischen Parteiensysteme polarisieren sich gegenwärtig. Eine neue Konfliktlinie zwischen Materialisten und Postmaterialisten oder – wer es eher kulturwissenschaftlich ausdrücken mag – zwischen Kommunitaristen und Kosmopoliten zerreißt die Volksparteien der Mitte und schüttelt die Parteiensysteme in ganz Europa durch. Wir in Deutschland sind in dieser Hinsicht Nachzügler in Europa. Ein besonderes Merkmal dieser neuen Konfliktlinie sind die Radikalnationalisten. Spätestens mit der Reichstagswahl von 2006 hat sich in Schweden ein modifiziertes Zweiparteiensystem herauskristallisiert, in dem zwei geschlossene Lager miteinander konkurrieren. Mit dem Eintritt der Schwedendemokraten bei der Reichstagswahl 2010 wurde diese relative Machtbalance gestört, lehnten doch die linken ebenso wie alle bürgerlichen Parteien eine Kooperation mit ihnen ab. Spätestens 2010 war also allen Beteiligten (und Beobachtern) klar, dass ein solches modifiziertes Zweitparteiensystem unter den neuen Bedingungen nicht funktionieren kann, denn auch im Minderheitsparlamentarismus benötigt die Regierung die parlamentarische Mehrheit, will sie Gesetze verabschieden. Seit 2014 war der sozialdemokratische Ministerpräsident trotz zahlreicher punktueller Kooperationen mit den bürgerlichen Parteien nicht erfolgreich dabei, die bürgerliche Allianz wirksam aufzubrechen. Nach der Reichstagswahl 2018 sind die Mehrheitsverhältnisse zwischen den beiden Blöcken jetzt so ausgeglichen, dass eine Entscheidung über zukünftige Muster der parteipolitischen Zusammenarbeit unumgänglich wird.

Strategisches Dilemma

Das Hin-und-Her der schwedischen Regierungsbildung ist nichts anderes als ein Prozess rationaler Parteiakteure, sich aus einem strategischen Dilemma so zu befreien, dass die politischen Kosten nicht zu hoch oder gar lebensgefährlich für kleine Parteien werden. Die Mitteparteien – die agrarisch-ländliche Zentrumspartei sowie die liberal-städtische Liberale Partei – lehnten eine Zusammenarbeit mit den Schwedendemokraten im Wahlkampf kategorisch ab. Während sich die Liberale Partei nach langem Zögern und innerparteilichen Verwerfungen einer Zusammenarbeit mit dem linken Lager zähneknirschend öffnete, stellte Annie Lööf, die Vorsitzende der Zentrumspartei, Radikalforderungen an das linke Lager. In der Tat hat die Zentrumspartei – trotz ihres Namens – in ökonomischen Fragen ein genuin libertäres und anti-sozialdemokratisches Politikprofil entwickelt (zumindest auf nationaler Ebene). In den schwedischen Kommunen ist die Partei hingegen sehr offen für blocküberschreitende Kooperationen. Nach nicht genannten Quellen sollen sich das linke Lager und die (ehemaligen) Mitteparteien allerdings am 8. Dezember fast einig gewesen sein – wäre da nicht die brisante Frage des Arbeitsrechts und des Kündigungsschutzes gewesen.

Die Zentrumspartei forderte eine gesetzgeberische Abschaffung des starren Kündigungsschutzes und vor allem der Regel, dass diejenigen Arbeitnehmer als erste zu entlassen seien, die als letzte in den Betrieb gekommen sind [»last-in-first-out«]. Dieses Gesetz stammt noch aus den 1970er Jahren, in denen die Linksparteien über den Gesetzgebungsweg eine Radikalisierung der Arbeitsbeziehungen entfachten. Insofern wäre es, so die Zentrumspartei, nur konsequent, diese – in ihren Augen – vor allem für kleine Betriebe unsinnige Regel auch auf dem Gesetzgebungswege wieder abzuschaffen. Die Sozialdemokratien mit ihrem Parteivorsitzenden Stefan Löfven – einem ehemaligen Spitzenfunktionär der Metallgewerkschaft – sehen dies allerdings anders. Die Partei möchte den Selbstregulierungsprozess des schwedischen Modells bewahren und so auch die Mitentscheidungsmöglichkeit für die – in jüngster Zeit stark geschwächten – Gewerkschaften verteidigen. An diesem Knackpunkt scheiterten also die Verhandlungen. Für viele Beobachter ein Ausgang, der durchaus zu vermeiden gewesen wäre. Ob die Sozialdemokratie in dieser Frage »zu bockig« war oder die Zentrumspartei mit ihren Forderungen »zu dominant«, die Antwort auf diese Frage liegt im Auge des Betrachters.

Jetzt stehen die Mitteparteien allerdings vor einem strategischen Dilemma. Sie haben zunächst Stefan Löfven als Ministerpräsident abgewählt. Dann haben sie Ulf Kristersson, dem konservativen Parteivorsitzenden, die Unterstützung bei der ersten Wahl zum Ministerpräsidenten versagt, weil eine solche Minderheitsregierung von der Unterstützung der Schwedendemokraten abhängig sei. Jetzt haben die Mitteparteien schließlich erneut dem sozialdemokratischen Parteivorsitzenden Stefan Löfven die Unterstützung versagt. Auf den ersten Blick kann man durchaus den Kopf schütteln: der Eindruck drängt sich auf, die Mitteparteien wüssten nicht, was sie wollen.

Szenarien einer Lösung

Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass beide Mitteparteien nur versuchen, aus diesem Dilemma ohne großen Gesichtsverlust und Imageschaden heraus zu kommen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass beide Mitteparteien mit 8,6 Prozent (Zentrumspartei) und 5,5 Prozent (Liberale Partei) gefährlich nahe an der in Schweden wirksamen 4-Prozent-Hürde agieren. Ein Wahlversprechen werden sie brechen müssen. Entweder sie unterstützen weiter die Allianz und einen konservativen Ministerpräsidenten Kristersson, dann bleibt nur die Frage, ob sich die Schwedendemokraten – wie in Dänemark die Dänische Volkspartei – als Unterstützungspartei die Rosinen des Regierens herauspicken und sich ansonsten medial weiter als Oppositionspartei darstellt. Oder es stellt sich die Frage, ob die Radikalnationalisten – wie in Norwegen – auch offiziell in die Koalition eingebunden werden. Beide Alternativen wären aber eine faktische Ausweiterung der bürgerlichen Allianz auf die Schwedendemokraten. Eine ganz andere Alternative bestünde darin, die Parteienallianz des bürgerlichen Lagers aufzulösen; dann müssten sich die Mitteparteien für eine Zusammenarbeit mit den linken Parteien öffnen. Annie Lööf und die Zentrumspartei haben also alle Schlüssel in den Händen. Der schwedische Politikwissenschaftler Bo Rothstein hat jüngst noch eine weitere Alternative ins Spiel gebracht: Der Präsident des Reichstages könnte auch eine »unpolitische« Regierung zusammenstellen. Persönlichkeiten aus dem politischen Geschäft ohne direkte Verbindungen zum parteipolitischen Konflikt könnten in die Regierung berufen werden. Abgesehen davon, dass sich in der gegenwärtigen parteipolitischen Polarisierung Schwedens auf den ersten Blick kaum derart »neutrale« Persönlichkeiten aufdrängen, so ist eine solche Lösung doch sehr nahe an den »Care-Taker« Regierungen Italiens. Eine solche Lösung würde sicherlich die Krise der schwedischen Demokratie weiter dramatisieren.

Oder es kommt zu einer Neuwahl, die in Schweden »extra val« genannt wird. Diese erfolgt automatisch, wenn nach dem vierten Wahlgang keine Ministerpräsidentin oder Ministerpräsident mit (relativer) Mehrheit gewählt werden kann (Enthaltungen werden im negativen Parlamentarismus nicht als Nein-Stimmen gezählt). Diese Wahl würde die Legislaturperiode nicht verlängern. Es wäre nur die Möglichkeit, den Ball wieder ins Feld der Wählerinnen und Wähler zurück zu spielen. Die meisten Beobachter sind sich allerdings darüber einig, dass sich am grundlegenden Dilemma des schwedischen Parteienwettbewerbs nichts ändern würde. Im Gegenteil, die Schwedendemokraten dürften zulegen und die Mitteparteien gefährlich nahe an die 4-Prozent-Sperre abrutschen.

Polarisierung des Parteiensystems

Die schwedische Demokratie befindet sich daher in einer historischen Zäsur. Insofern ist es verständlich, dass die Parteiakteure taktieren, sondieren und auf Zeit spielen. Das ist nichts Verwerfliches, das ist Demokratie. Und es ist keine unbekannte Situation. Spätestens seit 2006 hat sich der schwedische Parteienwettbewerb polarisiert. Und wer in die anderen nordischen Länder schaut, der wird erkennen, dass diese Länder bereits ihre Wegscheiden hinter sich haben.

Das Unverständnis der deutschen Öffentlichkeit mag zum einen also der Unkenntnis über die Funktionsweisen der nordischen Demokratien geschuldet sein; zum anderen aber auch der Tatsache, dass wir uns in Deutschland (noch) auf einer Insel der Ruhe befinden. Dahingegen hat in den anderen europäischen Ländern um uns herum die neue Konfliktlinie bereits sehr stark die Parteien (der Mitte) und die Parteiensysteme durchgerüttelt.

Entscheidend für die schwedische Demokratie wird jetzt sein, ob Andreas Norlén,  der Präsident des schwedischen Reichstages, den Druck auf die Mitteparteien weiter erhöhen wird und vor Weihnachten zum zweiten Mal Ulf Kristersson von der Konservativen Partei dem Reichstag zur Wahl vorschlägt. Oder ob er allen Parteien noch über die Weihnachtstage Zeit einräumt für weitere Verhandlungen und Sondierungen. Vielleicht könnte die Weihnachtsstimmung ja so manche Blockade lockern. So war es ja auch im Jahr 2014, als über die Weihnachtsfeiertage die Blockade im schwedischen Minderheitenparlamentarismus gelockert werden konnte – wenngleich ohne nachhaltigen Erfolg, wie wir gerade sehr eindrücklich mitverfolgen können.

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