Schwedens neue Wege in der Außen-, Sicherheits- und Europapolitik

von NORDfor

von Tobias Etzold

Schwedens neue konservativ-liberale Minderheitsregierung wird erstmals von den rechtsnationalen Schwedendemokraten toleriert. Diese Konstellation wird nicht nur die Innen-, Migrations- und Energiepolitik nachhaltig verändern, sondern auch Folgen für die Außen-, Sicherheits- und Europapolitik und damit Schwedens internationale Rolle und Reputation haben. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch Schweden am 1.1.2023 interessant.

Die neue schwedische Minderheitsregierung, seit Mitte Oktober im Amt und bestehend aus Moderater Sammlungspartei, Christdemokraten und Liberalen wird toleriert von den rechtsnationalen Schwedendemokraten. Diese Konstellation bedeutet einen Paradigmenwechsel insbesondere in der Innen- und Migrationspolitik. In der sogenannten Tidö-Vereinbarung einigten sich die vier Parteien auf eine enge Zusammenarbeit in den Politikfeldern Gesundheitswesen, Klima und Energie, Schulwesen, Kriminalitätsbekämpfung, Migration und Integration. Schwerpunktmässig werden der Umgang mit Straftätern deutlich verschärft und die Asylgesetzgebung noch restriktiver gestaltet werden. So sollen dauerhafte Aufenthaltsbewilligungen nicht mehr erteilt, Familienzusammenführungen eingeschränkt und Abschiebungen, u.a. von Personen mit »unzulänglichem Lebenswandel«, stark vereinfacht werden. Insgesamt spricht die Kooperationsvereinbarung eine klar schwedendemokratische Sprache.

Schwedische Sicherheitspolitik und NATO

Dies spiegelt sich auch in vielen Fragen der Außen- und Europapolitik wider, die allerdings in den Regierungsverhandlungen trotz der aktuell großen Herausforderungen nur eine Nebenrolle spielten und auch in der Tidö-Vereinbarung nur am Rande enthalten sind. Erst in seiner Regierungserklärung vor dem Reichstag am 18. Oktober sprach Ministerpräsident Ulf Kristersson ausführlicher über insbesondere die neue Sicherheitspolitik und den geplanten NATO-Beitritt Schwedens, den er als eine wichtige Priorität seiner Regierung hervorhob.

Für die bürgerlichen Parteien ist ein Beitritt bereits seit einigen Jahren ein Herzensanliegen zur Stärkung nationaler Sicherheit, doch im politischen Mitte-links Spektrum und in weiten Teilen der Bevölkerung blieb das Prinzip der militärischen Neutralität und Bündnisfreiheit tief in den Köpfen verankert. Erst mit Russlands Krieg in der Ukraine änderten sich die sicherheitspolitische Lage, die Bedrohungsperzeption sowie die Stimmung im Land und führten zu einem vielbeachteten Kurswechsel der sozialdemokratischen Vorgängerregierung. Anders als Finnland blieb Schweden jedoch gespalten. Selbst zum Zeitpunkt des Antrags Mitte Mai lag die Zustimmung in der Bevölkerung bei nur ca. 55 Prozent.

Der neuen Regierung fällt es anheim, den Beitritt unter Dach und Fach zu bringen. Trotz eines bilateralen Abkommens Schwedens und Finnlands mit der Türkei vom Juni, das u.a. die Entsagung jeglicher Unterstützung für kurdische Terrororganisationen, eine Aufhebung der Waffenembargos gegenüber der Türkei und eine schnelle Überprüfung von türkischen Auslieferungsforderungen von kurdischen Terrorverdächtigen beinhaltet, hat das türkische Parlament als einziges neben dem ungarischen die Beitrittsabkommen der beiden Länder noch nicht ratifiziert. Schweden zögerte bislang bei der Auslieferung von aus türkischer Sicht terrorverdächtigen Kurden wie von der Türkei mehrfach unmissverständlich gefordert. Laut NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat Schweden seine Hausaufgaben erledigt, indem es insbesondere seine Antiterrorgesetze verschärfte, doch den Türken genügt dies noch nicht. Da deren Widerstand auch innenpolitische Hintergründe hat, kann sich die Hängepartie noch bis nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im nächsten Sommer hinziehen. Allerdings ist davon auszugehen, dass die neue Regierung aufgrund ihres Vorsatzes, Migration stark einzuschränken und Abschiebungen zu erleichtern, sowie einer weit geringeren emotionalen Bindung zur Kurdenfrage, weniger Hemmungen haben wird, Kurden unabhängig von deren Schicksal in die Türkei abzuschieben, als die Vorgängerregierung und somit Präsident Erdogans Drängen nachzugeben. Zum Missfallen der Opposition distanzierte sich die Regierung jedenfalls von der syrisch-kurdischen Miliz YPG und deren politischem Arm PYD. Damit und in Fragen der Aufhebung des Waffenembargos und in Auslieferungsfragen kam Ministerpräsident Kristersson Präsident Erdogan bei einem Besuch in Ankara Anfang November weit entgegen. Für die bürgerlichen Parteien ist der NATO-Beitritt zu wichtig, als dass sie ihn an einem türkischen Veto scheitern lassen würden. 

Anders als im Mittelinkslager, herrscht in Fragen NATO und Türkei Einigkeit zwischen den bürgerlichen Parteien und den Schwedendemokraten, die lange Zeit einen Schlingerkurs hinsichtlich eines Beitritts fuhren. Traditionell waren sie aus Gründen der Abschottung, Skepsis gegenüber internationaler Zusammenarbeit generell und einer gewissen Sympathie für das autoritäre Russland unter Vladimir Putin strikt dagegen. Unter dem Eindruck des russischen Kriegs in der Ukraine fand schließlich die Kehrtwende statt. Die vier Parteien beschlossen zudem eine deutliche Aufrüstung der Streitkräfte und das Erreichen des Ziels der NATO, die Ausgaben für Verteidigung auf zwei Prozent des Bruttonationalprodukts zu erhöhen, und zwar bereits bis 2026. Ebenso wird die neue Regierung die bisherige Unterstützung Schwedens für die Ukraine fortführen und diese sogar noch verstärken etwa durch Lieferungen von komplexen Waffensystemen.

Die zukünftige Außen- und Entwicklungspolitik

In anderen Politikfeldern ist dies nicht der Fall, beispielsweise in der Entwicklungshilfepolitik, in der sich das sozialdemokratische Schweden immer stark engagiert hat. Die Moderaten und Schwedendemokraten setzten sich mit ihrer Forderung durch, das ambitionierte bisherige Ziel, 1 Prozent des schwedischen Bruttonationalprodukts für Entwicklungshilfe auszugeben, abzuschaffen und die Entwicklungshilfeausgaben deutlich kürzen. So wird sich Schweden künftig zwar weiter in der Entwicklungshilfe engagieren, seine Ausgaben aber nicht mehr an festen Vorgaben oder Zielen orientieren. Die Ausgaben können von Budget zu Budget variieren. Das geringere finanzielle Engagement stellt jedoch einen Widerspruch zum Vorsatz dar, Immigration nach Europa und Schweden durch mehr gezielte Hilfe an Drittländer vor Ort zu unterbinden, und könnte dementsprechend kontraproduktiv wirken. Die Vereinten Nationen, bislang ebenfalls ein wichtiger Pfeiler schwedischer Außenpolitik, wurden in Kristerssons Regierungserklärung nur am Rande erwähnt.

Der von den sozialdemokratischen Vorgängerregierungen geprägte Begriff der feministischen Außenpolitik, demzufolge Geschlechtergerechtigkeit und gleichberechtigte Teilhabe Voraussetzung für nachhaltigen Frieden und Sicherheit in der Welt sind, wurde aus dem Sprachschatz der neuen Regierung gestrichen, auch wenn man sich grundsätzlich weiter zur Gleichberechtigung bekennt. Es scheint, als wolle man sich zumindest rhetorisch von »linkem Ballast« befreien.

Schweden und die EU

Weiterhin betont wird die Bedeutung der EU für Schweden. Die Regierung wird gleich mit einer angesichts der aktuellen Herausforderungen großen Aufgabe konfrontiert, wenn sie Anfang 2023 die rotierende EU-Ratspräsidentschaft für ein halbes Jahr übernimmt. Das vom Parlament im Frühjahr beschlossene Programm ist ambitioniert aber eher allgemein gehalten: Sicherheit und die Stärkung der Rolle der EU in der Welt; die Bekämpfung organisierter Kriminalität; Beschleunigung der Anpassung an den Klimawandel; die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit der EU sowie die Wahrung der Werte der EU. Die Regierung wird primär die durch die Herausforderungen wie Ukraine, Sicherheit, Energiekrise und Klima vorgegebene EU-Agenda abarbeiten. Die Liste der schwedischen Prioritäten gibt aber kaum Hinweise darauf, ob das Land eigene Akzente setzen wird.  

Es deutet sich aber bereits an, dass die indirekte Regierungsbeteiligung der Schwedendemokraten Einfluss auf die schwedische Europapolitik hat. Bis 2019 wollten diese den Austritt Schwedens aus der EU. Davon haben sie zwar Abstand genommen, treten aber stattdessen vehement für ein starkes Zurückdrängen des supranationalen Einflusses der EU auf die schwedische Politik und die Priorisierung schwedischer Interessen ein. So wollen sie den Einfluss der nationalen Regierungen stärken, weitere Machtübertragungen an Brüssel sowie EU-Steuern verhindern und die schwedischen Beitragszahlungen stark verringern. Als Kooperationspartei erhalten sie einen exklusiven Zugang zu Regierungsinformationen hinsichtlich EU-Fragen noch bevor entsprechende Vorlagen ins Parlament gelangen und von den entsprechenden Ausschüssen behandelt werden. Dies dürfte ihren Einfluss auf die Beschlussfassung vergrößern. Dies zeigte sich bereits als Schweden sich zusammen mit Ungarn, einem Vorbild der Schwedendemokraten bei der Einschränkung demokratischer Rechte, bei einem Beschluss des Rats der EU über den Haushalt für 2023 enthielt. Dieser sah vor, dass Gelder für Ungarn eingefroren werden, bis dieses EU-Forderungen an Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nachkommt. 

Doch auch die Moderaten und Christdemokraten wirken im Gegensatz zu früheren Regierungsbeteiligungen EU-skeptischer, betonten in ihren Wahlprogrammen ebenso vor allem die Wahrung schwedischer Interessen, forderten eine schlankere EU und legten den Fokus auf die Lösung von den Problemen durch die EU, die Schweden alleine nicht bewerkstelligen kann (z.B. Handel, Migration und Sicherheit). Die Liberalen geben sich von allen vier Parteien noch als die EU-freundlichsten, wollen gar den Euro in Schweden einführen, doch werden sich damit nicht durchsetzen können. 

Wird Schweden jetzt also womöglich zu einem unsicheren Kantonisten in der EU? Das Land war zwar bisher schon ein nicht immer einfacher EU-Partner, der in manchen Bereichen auf die Beibehaltung nationaler Souveränität pochte, wurde aber dennoch als ein verlässliches, verantwortungsvolles und aktives EU-Mitglied gesehen, das bereit war, Führung zu übernehmen. Andere Staaten arbeiteten in Koalitionen gerne mit Schweden zusammen. In manchen Politikfeldern wie Umwelt, Klima, Gleichstellung, Forschung galt Schweden sogar als »Klassenbester« und Triebkraft. So ist Schweden EU-weit mit 60 Prozent Spitzenreiter beim Anteil von erneuerbaren Energien am nationalen Gesamtenergiemix.

Noch ist es weit zu früh, über die tatsächliche EU-Politik der neuen Regierung zu urteilen. Doch es gibt handfeste aus der Innenpolitik abgeleitete Hinweise, dass Schweden sein EU-Engagement zumindest in einigen Feldern zurückschrauben wird. Umwelt- und Klimapolitik scheint für die neue Regierung insgesamt einen geringeren Stellenwert zu haben, wofür insbesondere Pläne, die Budgetmittel für Umwelt und Klima zu halbieren, und die Abschaffung des Umweltministeriums als eigenständiges Ministerium, stehen. Umwelt- und Klima wurden in ein neues Superministerium für Klima und Wirtschaft überführt. Kritiker bemängeln, dass Umwelt und Klima demnach als Unteraspekte der Wirtschaftspolitik betrachtet und Schweden auf EU-Ebene vom Vorreiter zum Bremser mutieren wird. Das könnte insgesamt die Klimaambitionen der EU negativ beeinflussen. Klimapolitik wird primär auf den Ausbau von Kernkraft als angeblicher Universallösung von Schwedens Energieversorgungsproblem fokussiert, während der Ausbau erneuerbarer Energien nicht mehr wie bislang priorisiert wird. Generell gilt jetzt nicht mehr zu 100 Prozent erneuerbare, sondern zu 100 Prozent fossilfreie Energie als Ziel. Auch die Reduktionspflicht (Verringerung von Treibhausgasen in Benzin und Diesel durch die Beimischung erneuerbarer Brennstoffe) soll aufgeweicht und an die EU-Minimumvorgaben angepasst werden um Kraftstoffe günstiger zu machen. Experten gehen davon aus, dass Schweden dadurch seine Klimaziele für 2030 (Treibhausgasemissionsreduzierung von 63 Prozent im Vergleich zu 1990) verpassen wird, was die Regierung bewusst in Kauf zu nehmen scheint. Auch in anderen Politikfeldern wie der Migrations- und Asylpolitik gilt künftig lediglich die Umsetzung der Minimumvorgaben der EU als Leitlinie. Es ist unter diesen Vorzeichen kaum zu erwarten, dass Schweden sich wie bisher für eine stärkere und effektivere EU-Migrations- und Asylpolitik mit verbindlichen Verteilungsschlüsseln stark machen wird, abgesehen von einer verstärkten Sicherung der EU-Außengrenzen zur Abwehr von Migranten.

Schweden scheint sich also zumindest in etlichen Politikfeldern bei denjenigen Mitgliedstaaten einzureihen, die nationale vor europäische Interessen stellen, primär nationale Lösungen suchen, nur noch das Nötigste an EU-Vorgaben umzusetzen bereit sind und somit verstärkt »Rosinenpickerei« betreiben, damit aber riskieren, an Einfluss und Ansehen zu verlieren.

Schwedens veränderte Rolle: Nebenwirkungen und Risiken

Die neue schwedische Außen-, Sicherheits- und Europapolitik wird wesentlich stärker als bisher auf nationale Interessen und nach innen ausgerichtet und weniger normativ geprägt sein. Bisherige Äußerungen der neuen Regierung deuten darauf hin, dass Schweden sich weitgehend von der Weltbühne zurückziehen und sich stärker auf sich und seine nahe Umgebung (Norden, Ostsee, Baltikum, Europa) konzentrieren wird. Die Hervorhebung Europas in diesem Kontext gilt jedoch primär der EU als außenpolitischer Plattform und wird eher nicht trotz Übernahme der Ratspräsidentschaft mit einem stärkeren EU-Engagement Schwedens in anderen Bereichen einhergehen. Doch diese Strategie der Abschottung, verbunden mit dem Bruch etlicher Grundsätze schwedischer Außenpolitik, ist nicht ohne Risiko und kann zu erheblichem Einfluss- und Ansehensverlust führen. Die EU ist beunruhigt über die aktuellen Entwicklungen in vielen EU-Mitgliedstaaten und den wachsenden Einfluss von rechtsnationalen Parteien und wird daher auch Schweden verstärkt im Auge behalten.

Die Schwedendemokraten werden einen wachsenden Einfluss auch auf die Europa- und Außenpolitik (Vorsitz im Auswärtigen Ausschuss des Parlaments) haben, ohne dafür Verantwortung übernehmen zu müssen. Dies könnte einem weiteren guten Wahlergebnis in vier Jahren in die Hände spielen. Die schwedischen Liberalen wiederum sehen sich aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit einer rechtspopulistischen EU-feindlichen Partei bereits jetzt dem Argwohn ihrer europäischen Parteifreunde ausgesetzt. Wohl um dem entgegenzuwirken, teilten sie heftig gegen die Schwedendemokraten (»brauner Sumpf«) aus, was nicht ohne Reaktion von Seiten der Rechtsnationalen bleibt und bereits jetzt für erhebliche Verstimmungen in der Kooperationsgemeinschaft sorgt.  

Ob Ulf Kristerssons Entscheidung, unter diesen Vorzeichen eine Zusammenarbeit mit den Schwedendemokraten einzugehen, statt eine breitere politische parteienlagerübergreifende Regierungsallianz zu suchen, wie in Dänemark Mitte Dezember vollzogen, die Richtige war, ist fraglich. Letzteres wäre zwar ebenfalls ein Novum und Tabubruch gewesen und hätte den Moderaten den Ministerpräsidentenposten gekostet, wäre aber in Krisenzeiten wahrscheinlich die verlässlichere und weniger riskante Variante angesichts der aktuellen historischen Herausforderungen in Europa gewesen.

Dr. Tobias Etzold ist Politikwissenschaftler an der NTNU Trondheim und Redaktionsmitglied des NORDEUROPAforum.

Schlagwörter: , ,