Streit um die „schwedischen Stasi-Akten“

von Jan Hecker-Stampehl

In Schweden tobt in der letzten Zeit ein Streit über den Zugang zu Akten der Säpo (Säkerhetspolisen), des schwedischen Nachrichtendienstes. Die Akten, um die es in der öffentlichen Auseinandersetzung geht, enthalten Informationen über Schweden, die im Dienste der ostdeutschen Staatssicherheit als Informanten oder Mitarbeiter tätig waren. Nun hat die schwedische Justizministerin Beatrice Ask am 16.12.2011 entschieden, keinen Zugang zu diesen Akten zu gewähren. Das Absurde aber ist: Die schwedische Forscherin Birgitta Almgren hatte für die Arbeit an ihrem im letzten Herbst erschienenen Buch Inte bara spioner…stasi-infiltration i Sverige under kalla kriget [Nicht nur Spione…Stasi-Infiltration in Schweden während des Kalten Krieges] die Akteneinsicht erhalten – wenn auch erst nach Überwindung einiger Schwierigkeiten…

Die Germanistin Almgren von der Södertörn-Universität in Stockholm hat sich in den letzten Jahren mit ihren Arbeiten zum Verhältnis Schwedens zur DDR großes Renommee auf diesem Forschungsgebiet erworben. Im Anschluss an ihr 2009 erschienenes opus magnum Inte bara Stasi: relationer Sverige-DDR 1949–1990 [Nicht nur Stasi: Beziehungen zwischen Schweden und der DDR 1949–1990] wollte die mittlerweile emeritierte Professorin ihre umfangreichen Archivstudien, die sie etwa in den Materialien der BStU und in anderen Beständen unternommen hatte, fortführen. Ehe sie für ihr neues Projekt die Akten der Säpo einsehen konnte, musste sie allerdings einen Gerichtsprozess über mehrere Instanzen anstrengen, der im Sommer 2010 zu ihren Gunsten ausging. Sie erhielt als einzige Forscherin Zugang zu den Säpo-Akten. Der im Herbst 2011 erschienene Band enthält nun 50 (anonymisierte) Fallstudien zu Vertretern aus der schwedischen Politik, Wirtschaft und Kultur, die in der einen oder anderen Form mit der Stasi kooperierten, teils als informelle Mitarbeiter, teils durch Anwerbungsversuche, Verhöre u.Ä.

Die Veröffentlichung im September 2011 zog rasch eine erhitzte Debatte quer durch die schwedischen Medien nach sich. Der Grundtenor lässt sich so zusammenfassen: Prinzipiell begrüßte man, dass mit Almgrens Werk die nach wie vor wenig beachteten Beziehungen Schwedens zur DDR näher beleuchtet würden, doch hielten viele der Autorin eine Art unnötiger Skandalisierung und gar Hetzjagd vor. Nicht zuletzt würden die Spekulationen, wer denn nun hinter den Namen stehe, eher den Interessen des Boulevards dienen als der Aufklärung, so etwa Stefan Jonsson in seiner Rezension. Die Veröffentlichung rief auch die Säpo selbst erneut auf den Plan, da man meinte, Almgren habe gegen die Auflage verstoßen, ihre Forschungsergebnisse dürften keinerlei Rückschlüsse auf die Personen erlauben. Mehrere „Betroffene“ hatten sich in der Debatte zu Wort gemeldet und sich darüber beklagt, sie seien trotz der Anonymisierung identifizierbar gewesen und zudem zu Unrecht beschuldigt worden. Die Säpo ersuchte daraufhin den schwedischen Justizkanzler (eine generalstaatsanwaltliche Behörde), Ermittlungen gegen Birgitta Almgren einzuleiten, weil sie gegen die Auflagen verstoßen habe und die Verschwiegenheitspflicht verletzt habe. Almgren zeigte sich selbst bestürzt darüber, dass sie nun kriminalisiert werden solle und der Vorgang führte zur Solidarisierung zahlreicher ForscherInnen mit ihr und zu einem vielfach unterzeichneten Protestschreiben. Der bei der BStU beschäftigte renommierte deutsche Forscher Helmut Müller-Enbergs, der bereits mit finnischen und dänischen Kollegen einen scharfen Protestbrief veröffentlicht hatte, machte dem Unmut der internationalen Forschungs-Community in einem Radio-Interview Anfang November 2011 Luft. Die eigene Hochschule stärkte Almgren den Rücken, eine große Anzahl individueller ForscherInnen äußerte in einem Protestschreiben an die Justizkanzlerin ihre Bedenken.

In der Presse und seitens der schwedischen Oppositionsparteien, aber auch in Teilen der Regierung wurden in der Folge Erwartungen und vielfach auch klare Forderungen laut, nun die Archive vollständig zu öffnen. Das ganze Wissen solle allen zugänglich werden, auch für die „Betroffenen“ selbst (um etwa falsche Verdächtigungen unter Verweis auf die Akten korrigieren zu können). Almgren fand sich zudem in der absurden Situation wieder, sich z.B. in Interviews über ihr neu erschienenes Buch nur noch in Form von Allgemeinplätzen äußern zu dürfen, um sich nicht weiteren justitiablen Vorwürfen auszusetzen. Schließlich entschied die Regierung in der Person der Justizministerin, die Akten nicht zu öffnen. Man könne die entsprechenden Informationen ja schließlich auch in deutschen Archiven einsehen, so Ministerin Ask in ihrer Stellungnahme am 16.12.2011.

Man fragt sich in der Tat, wer hier geschützt werden soll und wer glaubt, davon zu profitieren, dass man den Zugang zu diesen Informationen so gering hält. Die schwedische Debatte erweist sich hier als äußerst verquer, geradezu, als ob die schwedischen Eliten weitere Veröffentlichungen zu fürchten hätten. Nicht nur, dass die Säpo hier einen für einen demokratischen und pluralistischen Staat zweifelhaften Umgang mit ihren eigenen Akten pflegt – es scheinen Mechanismen zur öffentlichen Kontrolle der Säpo für solche Belange zu fehlen. Almgren hat nicht nur diese Absurditäten benannt, sondern auch kritisiert, dass sich die schwedischen Stellen nicht hinlänglich darum bemüht hätten, alles für Schweden relevante Material aus den so genannten „Rosenholz-Dateien“1 anzufordern. Müller-Enbergs wies in einem Beitrag im Blog der schwedischen Tageszeitung Svenska Dagbladet am 26.12.2011 auf diesen Umstand und die daraus abzuleitende Schlüsselrolle, in der sich die schwedische Regierung in dieser Frage daher befinde, hin. Er hob ebenso auf die problematische Quellenlage in Sachen Staatssicherheit ab – die 1989/90 vernichteten, geschredderten oder zerrissenen Akten, die noch lange nicht wiederhergestellt sind. „Endlich eine professionelle Äußerung über das Stasi-Archiv“ atmete die schwedische Bloggerin Lena Breitner auf, die die Debatte wohl am intensivsten in der schwedischen Blogosphäre kommentiert und begleitet hat. Zuvor hatte eine „betroffene Person“ konstatiert, Almgren habe in Bezug auf ihre vermeintliche Stasi-Tätigkeit fabuliert, und einen Brief der BStU, der bestätigte, in den Beständen der Stasi-Unterlagenbehörde seien keine Dokumente zu finden, als Persilschein vorgewiesen.

In der Tat handelt es sich hier nicht nur um eine isolierte schwedische Debatte, sondern man muss die Problematik mindestens in einem gesamt-nordeuropäischen Kontext sehen. Auf einer Konferenz in Visby im September 2011, an der neben Almgren profilierte nordeuropäische und deutsche ForscherInnen teilnahmen, wurde das so genannte Gotland-Manifest verabschiedet, welches von den Regierungen aller nordischen Länder forderte, die ihnen nach 2003 von der CIA übermittelten Teile der Rosenholz-Dateien der BStU zur Verfügung zu stellen. Entgegen mancher Annahmen waren diese Dateien nicht gesammelt nach Berlin übergeben worden, sondern dem entsprechenden Herkunftsland der in den Akten erfassten Personen nach. Warum allerdings nach gut zwei Jahrzehnten ja bereits umfassend betriebener Forschung dieser Zustand aufrecht erhalten werden soll, sei nicht recht einzusehen.

Die Debatte zeigt ein weiteres Mal, dass die nordischen Länder für die Forschung zur DDR-Außenpolitik und zu den West-Aktivitäten der HVA eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten und spielen. Nordeuropa, insbesondere Schweden und Finnland, war in der Welt des Kalten Krieges eine Schwerpunktregion der DDR-Außenpolitik.2 Zugleich stellen sich hier aber auch Fragen nach dem öffentlichen Umgang mit Geschichte, wie politisiert die Vergangenheit womöglich immer noch betrachtet wird und welche Konsequenzen dies für die Freiheit der Forschung hat.

Problematisch erscheint vor allem, wie sehr die Säpo selbst den Zugang zu den Akten mittlerweile offensichtlich recht willkürlich steuert. So erhielt ein Journalist freien Zugang ohne jede Auflage zu einem kleinen Teil desselben Materials wie Almgren – so kann man unbefangene Offenheit vorgaukeln, anstatt eine von der Institution Säpo unabhängige Kontrollinstanz zu etablieren. Birgitta Almgren hat in ihrer jüngsten Stellungnahme am 4.1.2012 zudem umfangreiche Kassationsvorgänge durch die Säpo in ihren eigenen Aktenbeständen und die Versuche der Säpo, der freien Forschung einen Riegel vorzuschieben, deutlich angeprangert. Da sie über ihre eigentlichen Aktenfunde nichts äußern darf, bleibt ihr ohnehin nur die Beteiligung an der – an sich gar relevanteren – Meta-Debatte.

Es bleibt abzuwarten, zu welchem Ergebnis die Ermittlungen gegen Almgren führen. Man kann nur hoffen, dass die schwedische Politik zur Einsicht kommt – auch im Interesse einer über den nationalen Rahmen weit hinausreichenden Öffentlichkeit.


1 Vgl. zu dieser Thematik Helmut Müller-Enbergs & Thomas Wegener Friis: „The Rosenholz Archives: Myth and Reality.“ In: Baltic Worlds 1/2012.

2 Vgl. hierzu die Beiträge in Jan Hecker-Stampehl (Hrsg.): Nordeuropa und die beiden deutschen Staaten 1949–1989. Aspekte einer Beziehungsgeschichte im Zeichen des Kalten Krieges. Leipzig/Berlin 2007. Link zur Verlagsinformation