- 27.05.2025
- Kategorie Kulturgeschichte Politik / Gesellschaft Sonstiges
Vi ska bada bastu oder: Warum Schwedens Eurovision-Beitrag dieses Jahr Balsam für die Seele eines europäischen Projekts war. Ein Rückblick auf den diesjährigen Eurovision Song Contest aus der Perspektive einer Basler Skandinavistin
von Lena Rohrbach
Der Eurovision Song Contest (ESC) fand in diesem Jahr in Basel statt, und die ganze Stadt befand sich nicht nur in der vergangenen Woche, sondern bereits das ganze Frühjahr über im Ausnahmezustand. Im Nachgang folgen hier einige Beobachtungen zur diesjährigen Ausrichtung des jährlichen Großereignisses der europäischen Populärkultur aus lokaler und skandinavistischer Perspektive.
Der ESC (in Basel) – ein skandinavistischer Untersuchungsgegenstand?
Nach Nemos Sieg beim Eurovision Song Contest in Malmö im vergangenen Jahr wurde der ESC, wie es die Tradition vorsieht, in diesem Jahr von der Schweiz ausgerichtet. Vom 10. bis 17. Mai waren in Basel Delegationen von 37 Ländern sowie Hunderttausende von Fans vor Ort, die Hotels waren seit letztem Mai in Basel und Umland beinahe gänzlich ausgebucht. Die ganze Stadt bereitete sich seit Monaten medial und emotional auf dieses Großereignis vor.

ESC-Tram im Basler Stadtbild (Foto: Lena Rohrbach)
Auch die Universität Basel ließ sich breit auf den ESC als Untersuchungsgegenstand ein: Es finden in diesem Frühjahrssemester eine Ringvorlesung und Seminare zu kulturanthropologischen, sprach- und literaturwissenschaftlichen Fragestellungen rund um dieses Phänomen der europäischen Populärkultur statt. Und so hat auch die Nordistik Basel sich anlässlich des anstehenden Ereignisses vor der eigenen Haustür in einem Kurs intensiv mit der Geschichte der nordischen Beiträge und Ausrichtungen von der Gründung des Wettbewerbs 1956 bis zu diesem Jahr beschäftigt. Vom 1. bis 17. Mai wurden schließlich eine Reihe von Posts der Kursteilnehmenden auf dem Social Media-Auftritt der Nordistik Schweiz veröffentlicht, die auch in diesem Blogbeitrag ihre Spuren hinterlassen haben. Das Verhältnis der nordischen Länder zum ESC ist ein ertragreicher Untersuchungsgegenstand. Die nordischen Länder nehmen alle seit Jahrzehnten (Dänemark seit 1957, Schweden seit 1958, Norwegen seit 1960, Finnland seit 1961 und Island seit 1986) ununterbrochen teil und gewinnen auch – Schweden allen voran – in schöner Regelmäßigkeit. Vor allem Schweden als profilierter Gastgeber der Veranstaltung (1975, 1985, 1992, 2000, 2013, 2016, 2024) hat dabei über die Jahrzehnte hinweg zur Konturierung des Wettbewerbs beigetragen.
Die schwedische Handschrift des (Basler) ESC
Es ist daher kein Zufall, dass der schwedische „Meister“ des ESC, Christer Björkman, vom Schweizer Ausrichter SRG (Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft) unter der Leitung von Moritz Stadler als Head of Contest angeheuert wurde. In dieser Funktion war er für die Produktion und Zusammenstellung der Wettbewerbsbeiträge verantwortlich, während ein zweiter Schwede, Tobias Åberg, als Head of Production zuständig für die technische Produktion der Beiträge war. Christer Björkman, – als in den 1990er Jahren wiederholt für Schweden antretender Sänger beim ESC eher wenig erfolgreich – übernahm seit 2002 für zwanzig Jahre die Inszenierung des schwedischen nationalen Vorentscheides Melodifestivalen (in Schweden auch bekannt als Mello), baute dieses in dieser Zeit zu einem medialen Hit in Schweden aus und dirigierte darüber hinaus auch die Ausrichtung der schwedischen Gastgeberschaften des ESC 2013, 2016 und 2024. Auch die Veranstaltungen des Contests in Kiew 2017, Lissabon 2018 und Tel Aviv 2019 wurden in seine Hände gelegt – stets mit Tobias Åberg als Produktionsleiter im Team. Seit mehr als zehn Jahren ist die Inszenierung des ESC damit von diesem schwedischen Tandem geprägt, das in diesen beiden Schlüsselpositionen nicht wenig Einfluss auf das Gelingen der Gesamtveranstaltung, aber auch auf das Wohl und Weh der einzelnen Beiträge hat.
Doch damit nicht genug des schwedischen Einflusses auf den Wettbewerb. Seit 2020 leitet Martin Österdahl im Namen des ESC-Ausrichters European Broadcasting Union (EBU) als Executive Supervisor die Gesamtgeschicke der Veranstaltung und übernahm damit die Funktion vom vorherigen langjährigen Leiter, dem Norweger Jon Ola Sand. Wie Björkman brachte auch Österdahl die schwedischen Erfahrungen und Vorstellungen zum Wettbewerb mit im Gepäck, als Produzent des Melodifestivalen 2007 und 2008 sowie als Produzent des ESC 2013 und 2016.
Auf der musikalischen Ebene lässt sich über die Jahre hinweg ebenfalls eine auffällig hohe Präsenz schwedischer Komponist:innen verfolgen. Auch in diesem Jahr waren einige prominente schwedische ESC-Figuren im kreativen Stab verschiedener Länder zu finden: Der armenische Beitrag Survivor wurde u.a. vom Tandem Thomas G:son und Peter Boström verfasst, die unter anderem als Komponisten von Loreens Siegerliedern Euphoria (2012) und Tattoo (2023) in Erscheinung getreten sind, und der Stage Director des französischen Beitrags Maman von Louane war Fredrik Rydman, der auch Choreograf von Måns Zelmerlöws Gewinnerbeitrag Heroes (2015) ebenso wie von Nemos Auftritt im vergangenen Jahr war.

Die schwedische Moderatorin Petra Mede (2. v.r.) als Wilhelm Tell im Interval Act «Made in Switzerland» im ersten ESC-Halbfinale 2025 (Foto: Lucia Santercole)
Und sogar bei den Interval Acts gab es dieses Jahr eine prominente schwedische Stimme: Die bekannte und populäre Moderatorin der schwedischen ESC-Ausrichtungen von 2013, 2016 und 2024, Petra Mede, verkörperte beim Interval Act des ersten Halbfinales am 13.5. niemand Geringeren als einen singenden Wilhelm Tell, der die Schweiz mit der Erfindung des ESC rettet. Auch wenn Schweden also nicht selbst den Wettbewerb ausrichtet, ist die Veranstaltung seit mehr als zehn Jahren maßgeblich durch schwedische Akteur:innen geprägt.
Nationalsprachen im Trend in der Joggelihalle im Dreiländereck
Der diesjährige schwedische Wettbewerbsbeitrag selbst war hingegen in mehrerlei Hinsicht untypisch für die Auftritte dieses Landes. Nach mehr als 25 Jahren hatte Schweden erstmals keinen Act auf Englisch im Rennen, sondern mit Bara Bada Bastu (Einfach in die Sauna gehen) eine von der finnlandschwedischen Gruppe KAJ im Dialekt ihrer Heimatregion Vörå verfasste Hymne auf die Saunakultur, die mit ihrem eingängigen Refrain und dem einprägsamen Signature-Tanz verschiedene nationale Streaminghitlisten und soziale Plattformen eroberte und dabei auch einige hörenswerte Coverversionen zum Beispiel vom Studierendenchor der Universität Umeå oder der A Cappella-Gruppe Aoravocal hervorbrachte. Auch in den Straßen Basels, in der St. Jakobshalle, im Eurovision Village (in der Basler Messehalle) und auf dem Eurovision Square (aka Barfüsserplatz) ebenso wie im ESC-Karaoke-Drämmli (einer während des ESC in einer Straßenbahn untergebrachten Karaokebar) hatte das Lied in den letzten Tagen gut hörbar viele Anhänger:innen. Die internationalen Wettbüros sahen das am Ende auf Platz 4 gelandete Lied sogar mit Abstand als Siegertitel.
Die internationale Durchschlagskraft des Lieds erscheint zunächst erstaunlich angesichts der Tatsache, dass es eben nicht auf englischer Sprache verfasst und der Refrain auch nicht ohne weiteres universal mitsingbar ist, anders als etwa die internationalen Publikumslieblinge Cha Cha Cha (Finnland 2023) oder Rim Tim Tagi Dim (Kroatien 2024) mit ihren dadaistischen Kehrreimen. Gleichzeitig steht dieser Erfolg auch symptomatisch für einen allgemein auffälligen Befund in diesem Jahr: Von den 26 Final-Acts waren nur fünf mehrheitlich auf Englisch bzw. nicht in der/einer Nationalsprache des antretenden Landes verfasst (insgesamt waren es sechs englischsprachige Beiträge, davon einer aus Großbritannien). Ist das ein Bekenntnis zur europäischen Vielsprachigkeit oder die Rückbesinnung aufs Nationale und Regionale? Vielleicht ein bisschen beides: Die Abstimmungsmuster des Publikums lassen erkennen, dass die nationalsprachlichen Beiträge vor allem von Ländern derselben Sprachfamilie Stimmen erhalten haben. Gleichzeitig ließ sich aber das internationale Publikum vor Ort in Basel laut vernehmbar auf die verschiedenen Sprachen ein, nicht nur auf das Italienische und Französische, die dieses Jahr sehr prominent vertreten waren, sondern auch auf die kleinen Sprachen wie das Isländische, Lettische, Litauische und eben auch das Finnlandschwedische. Die Polyglossie war omnipräsent im Basel der vergangenen Tage, und dies erschien durchaus stimmig und folgerichtig, gibt es wohl nur wenige Städte, in denen diese Offenheit für Vielsprachigkeit so zu Hause ist wie in der Stadt im Dreiländereck zwischen Deutschland, Frankreich und der Schweiz – einem Land mit vier Nationalsprachen.
Der Basler ESC: Selbst- und Fremdspiel mit Stereotypen und Klischees
Doch Bara Bada Bastu zeichnet sich nicht nur durch die Sprachwahl aus. Der Beitrag bricht auch mit einer in den vergangenen Jahren etablierten schwedischen Tradition von Popsongs, die austauschbar aus jedem der teilnehmenden Länder hätten stammen können. Die schwedischen Acts der letzten Jahre hatten dezidiert jede „Swedishness“ abgelegt, sprachlich, musikalisch und auch inhaltlich, und auch die Bühnenshow bediente sich anders als vor allem die norwegischen Beiträge keiner visuellen Anker, die die skandinavische Herkunft des Auftritts indiziert hätten. Die beiden Gewinnerlieder von Loreen (Euphoria 2012 und Tattoo 2023) und der Siegertitel von Måns Zelmerlöw (Heroes 2015) waren national unmarkierte Beiträge zur globalen Poptradition, wie es auch Zelmerlöws diesjähriger Bewerbungstitel Revolution gewesen wäre.

Geballte Klischees und Stereotypen in KAJs Bara BadaBastu beim schwedischen Vorentscheid Melodifestivalen (Foto: Wikipedia commons)
Doch das schwedische Publikum entschied sich dafür, in diesem Jahr ein Lied ins Rennen zu schicken, das kaum dichter gepackt hätte sein können an klassischen skandinavischen Stereotypen und Klischees: Drei Männer sitzen am Lagerfeuer, braten eine Wurst, umgeben von Nadelbäumen und Personen, die Baumstämme in Holzfällerhemden durch die Gegend tragen, bevor sich die ganze Szene in eine Sauna verwandelt, in der der Stress des Tages hinter sich gelassen wird. Der Liedtext selbst handelt vom Saunieren als besten Balsam für Körper und Seele, nicht mehr und nicht weniger. Es geht um die richtige Temperatur, spritzenden Schweiß und wirbelnden Wasserdampf – immer wieder durchsetzt von einem sonoren „Sauna“-Ruf. In dieser visuell und inhaltlich überzogenen Ausstellung nationaler Klischees wird die Performance dieses Lieds zu einer liebevoll-ironischen Hommage an das Swedish-Finnish Way of Living, ohne dieses pathetisch zu überhöhen oder aber zu diskreditieren.
Das ironische Spiel mit nationalen Klischees war dieses Jahr insgesamt recht hoch im Kurs: Der estnische Beitrag Espresso Macchiato von Tommy Cash präsentierte uns auf der Bühne in einem herrlichen Kauderwelsch aus Italienisch und Englisch einen von muskelstrotzenden Bodyguards abgeschirmten, leicht dubiosen, wie ein Mafioso schwitzenden Besitzer eines Ristorante, der seinen Kaffee „very importante“ mag. Nach anfänglich verschnupften Reaktionen von italienischer Seite wurde das Lied beim Finale von Italien mit 10 (von 12 möglichen) Punkten von der Jury und 7 Punkten vom Publikum belohnt und kam insgesamt auf den dritten Platz.
Das charmant-freche Spiel mit Selbst- und Fremdbildern von Schweden und Estland rangierte also zwar am Ende nicht ganz oben, aber doch auf den vordersten Plätzen, so dass man dem europäischen Publikum (und in leicht abgeschwächter Form auch den Fachjuries) aktuell eine Lust an der spielerischen Auseinandersetzung mit nationalen Klischees attestieren kann, auch wenn am Ende mit Österreich und Israel doch zwei (mehrheitlich) englischsprachige Lieder mit einer gehörigen Portion Pathos die beiden ersten Plätze belegen.
Feministischer Höhepunkt und Gen Z-Wikinger: Beiträge der anderen nordischen Länder am ESC 2025
Neben Schweden schafften es in diesem Jahr erstmals wieder seit 2014 auch alle anderen nordischen Länder ins Finale – und daneben auch die drei baltischen Länder. Während der norwegische und dänische Beitrag in diesem Jahr ebenfalls in die Kategorie „globaler Popsong“ fielen, präsentierten sich Island und Finnland, wie in den vergangenen Jahren des Öfteren, mit Liedern in der Nationalsprache.
Dabei schloss der finnische Act Ich komme (nur dieser eine Refrainvers ist neben dem Einwurf „Wunderbar“ auf Deutsch) von Erika Vikman an eine Tradition finnischer Performances in den letzten Jahren an, die sich durch eine Verhandlung bzw. Ausstellung gesellschaftskritischer und tabuisierter Themen auszeichnet. Beispielhaft kann hier Krista Siegfrids Beitrag Marry Me 2013 erwähnt werden, der die Ideale der traditionellen heterosexuellen Ehe kritisierte und mit einem Kuss zweier Frauen endete oder auch die Nominierung der Punkgruppe Pertti Kurikan Nimipäivät, deren Bandmitglieder alle Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung sind, im Jahr 2015. Auch Erika Vikmans Act brach Tabus, indem sie visuell, musikalisch und textuell (wenn auch neben der deutschen Refrainzeile nur über Finnischkenntnisse erschließbar) fulminant das Erreichen eines sexuellen Höhepunktes inszenierte, der mit einem Ritt auf einem hoch über der Bühne schwebenden, überdimensionierten, funkensprühenden goldenen Mikrofon endete. Das irritierte, und das sollte auch irritieren, in guter finnischer Tradition, brachte aber am Ende einen beachtlichen 11. Platz ein.

Rudertour unter Palmen? Der isländische Beitrag Róa der Gruppe Væb (Foto: Wikipedia commons)
Der isländische Beitrag Róa (Rudern) der beiden jungen Sänger der Gruppe Væb dagegen landete auf dem undankbaren vorletzten Platz und erhielt gar null Punkte von den nationalen Juries, nachdem er es zuvor völlig unverhofft ins Finale geschafft hatte. Der musikalisch nicht besonders originelle Song in einer Mischung aus Elektropop, Shanty und Rap hatte zugegebenermaßen durchaus Ohrwurmqualitäten, aber es waren wohl zu viele Botschaften auf den verschiedenen Ebenen der Performance, die die Zuschauer am Ende leicht desorientiert zurückließen. Der silbern-blinkende Gen Z-Look, die Tanzmoves und die Palmenshirts der Backgroundtänzer:innen waren nur bedingt mit dem Inhalt des Liedes in Einklang zu bringen, das von einem einsamen Ruderer im Nordatlantik erzählt, der auf der Suche nach neuen Ufern Halt auf den Färöern und in Grönland macht. Wikinger-Landnahmenarrative sind in der internationalen Populärkultur aktuell hoch im Kurs, was immer man davon hält; diese semantische Ebene blieb aber wohl dem Großteil des internationalen Publikums verborgen.
Ambulante Saunakultur am Rheinknie – Nationbranding beim ESC
Der ESC ist nicht nur und vielleicht auch nicht primär ein Musikwettbewerb. Neben den musikalischen Beiträgen ist die Veranstaltung eine Plattform für die Inszenierungen nationaler, regionaler und europäischer Identität(en) und für das Nationbranding allen voran des Gastgeberlandes: im Format der sogenannten Postkarten vor den einzelnen Beiträgen, in den Interval Acts vor und nach den Wettbewerbsbeiträgen, aber auch für die Hunderttausende von angereisten Fans im Stadtbild während der Veranstaltungswoche. Basel füllte diesen Gestaltungsraum unter Bestätigung wie Unterlaufung von Nationalklischees recht erfolgreich aus, sowohl nach meiner subjektiven Erfahrung vor Ort als auch wenn man dem internationalen Medienecho folgen mag, und präsentierte sich als weltoffene, tolerante, zuverlässige und sichere Stadt, in der auch kritischen Stimmen Raum gewährt wurde.

Replikat von Erika Vikmans goldenem Mikrofon in der finnischen ESC-Lounge in Basel (Foto: Lena Rohrbach)
Neben dem Gastgeberland nutzte vor allem Finnland die Chance des Selbstmarketings und errichtete – meines Wissens als einziges Teilnehmerland – eine Länder-Lounge am Rheinufer mit einer eigens aus Finnland überführten mobilen Sauna und Vertreter:innen aus Tampere (der Heimatstadt Erika Vikmans) und Vörå (der Heimatgemeinde von KAJ), die ein Publikumsmagnet mit viel Medieninteresse war, an dem sich auch die finnischen und (finnland)schwedischen Acts sehen ließen. Auch Vertreter:innen der finnischen Botschaft und des Berliner Finnland-Instituts kamen zu Besuch, man ging in die Sauna und lichtete sich auf einem Replikat von Erika Vikmans goldenem Mikrofon ab. Wiederum in spielerischer Auseinandersetzung mit nationalen Stereotypen und Klischees inszenierte sich Finnland irgendwo zwischen engem Schulterschluss mit Schweden und freundlicher Appropriation des schwedischen Beitrags in dieser Woche als nahbares gemütliches Land – auch dies ermöglicht durch den außergewöhnlich spielerischen Beitrag von KAJ in diesem Jahr.

Yksi kaksi kolme Sauna: Aus Finnland eingeführte Sauna in der finnischen ESC-Lounge in Basel (Foto: Lena Rohrbach)
Politischer ESC: Temperaturmessungen der europäischen Gemütslage und der gesellschaftlichen Debatten im Jahr 2025
Natürlich war nicht alles nur Sauna, Glitzer und Konfetti. Der ESC ist allen Beteuerungen zum Trotz auch ein politisches Ereignis. An den jeweils festgelegten Regelungen der EBU etwa bezüglich der Verwendung von LGBTQ-Flaggen und anderen Artefakten mit Symbolgehalt ebenso wie an den Reaktionen auf Teilnahmen von einzelnen Ländern und Abstimmungsergebnisse lässt sich der aktuelle Gemütszustand Europas ablesen. Nicht zuletzt aus den nordischen Ländern kamen vor dem Hintergrund des aktuellen Gazakonflikts vehemente Einsprachen gegen eine Teilnahme Israels, und die an Verschwörungsmythen grenzenden zahlreichen Auslassungen im Netz nach den diesjährigen Abstimmungsergebnissen irritieren und beunruhigen. Die Schweizer Ausrichter nahmen diesen Positionen zumindest vor Ort durch Raum für Gegenstimmen verbunden mit klaren Grenzsetzungen akzeptablen Verhaltens Wind aus den Segeln – dies hinderte das Netz aber nicht daran, über manipulative Ausblendungen von negativen Publikumsreaktionen in der Fernsehausstrahlung zu spekulieren. Vor Ort in Basel waren die Proteste durchaus sichtbar und auch an einzelnen Veranstaltungen in der Halle erlebbar, sie dominierten aber nicht das Bild und die Gesamt-Soundscape der Veranstaltung.
Das Thema der Fairness ist ein Dauerbrenner des ESC: Ist es fair, dass die Big Five (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Spanien) sich nicht für das Finale qualifizieren müssen, ist das jeweils geltende Abstimmungssystem fair, geht es bei den Televotings mit rechten Dingen zu? Alle Jahre wieder werden diese Fragen je nach Ausgang des Wettbewerbs erneut intensiv diskutiert, so auch wenig überraschend in diesem Jahr. Die Fairness-Debatte wird seit der Digitalisierung des Musikkonsums und des Durchbruchs von generativer AI neuerdings um zwei weitere Themen erweitert: Ist die Streaming-Musikkonsumkultur des 21. Jahrhunderts fair für die Künstler:innen, die in der Regel anders als im Zeitalter von LP und CD abhängig von den genutzten Streamingdiensten kaum finanziell von hohen Streamingzahlen profitieren? Und welche ökonomischen Konsequenzen sind von den Möglichkeiten der Komposition durch AI zu erwarten? Diese Fragen wurden ebenfalls in der vergangenen Woche im Rahmen der den ESC begleitenden, jeweils am Gastgeberstandort ausgerichteten Eurovisions-Konferenz diskutiert, und die Digital Society Initiative der Universität Basel richtete einen AI-ESC aus und verband diesen mit einer kritischen Diskussion über die Chancen und Risiken der künstlichen Intelligenz.
Der lokalen Beobachterin des Geschehens in diesem Jahr wurde eindrücklich vor Augen geführt, dass der ESC viel mehr ist als nur eine einmalige Abendfernsehshow: Er ist ein vielschichtiges Projekt der nationalen Selbstvermarktung, er ist ein europäisches Volksfest der Populärkultur, er ist ein lokales Großereignis, das eine ganze Stadt (mindestens) für eine Woche lang prägt. Er ist zugleich eine Aushandlungsfläche für große Debatten der Zeit – von der Genderidentität über politische Konflikte hin bis zu Fragen des Umgangs mit der künstlichen Intelligenz. Und er ist auch ein äußerst lohnenswerter kulturwissenschaftlicher Untersuchungsgegenstand, an dem sich die emotionale und politische Lage Europas ablesen lässt. Ein bisschen Sauna hin und wieder tut uns allen gut.
Lena Rohrbach ist Professorin für Nordische Philologie an den Universitäten Basel und Zürich.
Der Beitrag ist in Auseinandersetzung mit dem Thema im Rahmen des Kurses »Crossing Borders. Skandinavische Beiträge zum Eurovision Song Contest gestern und heute« an der Universität Basel entstanden, und ich danke allen Studierenden für ihre Inputs und Beiträge, die auf dem Facebook-Account nordistik.schweiz nachgelesen werden können.