- 16.10.2017
- Kategorie Politik / Gesellschaft
Hygge revisited
Kann man es den offiziellen Vertretern des Königreiches Dänemark verdenken, dass sie die günstige Gelegenheit des aktuellen Hygge-Hypes für die eigene Vermarktung nutzen? Lenken doch die imaginierten, medial auf Hochglanz ausgesandten Düfte von Kuchen, gebratenem Bacon, Glühwein und Holzfeuer, samt Wollsocken und Herbstlaub von ein paar politischen Unappetitlichkeiten so vorzüglich ab: Inger Støjberg, die dänische Integrationsministerin (!), präsentierte mit strahlendem Lächeln im März 2017 via Facebook einen weiteren „Erfolg“ ihrer „liberalen“ Politik mit der Zurschaustellung einer großen, mit der dänischen Fahne geschmückten Torte: „Heute habe ich die Verschärfung Nr. 50 für den Bereich der Ausländer durchbekommen. Das soll gefeiert werden!“ Das wäre also die mit Hygge kandierte Fremdenfeindlichkeit, ach, wie sind wir doch so gemütlich! Der schwedische Kommentator Patrik Svensson listet in seinem Beitrag in der Tageszeitung Sydsvenskan mehrere dieser Verschärfungen auf, stellt knapp das Schicksal einiger Kriegsflüchtlinge aus dem Nahen-Osten vor – und „verrät“ sarkastisch das Rezept dieser „Hygge-Torte“, für die der Ofen auf 88 Grad vorzuwärmen und die dann bei 33 bis 45 Grad zu backen sei, brauner Zucker und Vichy-Wasser seien beizumengen, Mandelsplitter mit gestrecktem rechten Arm über sie zu streuen, am Ende würde sich die Freude eines neuen Nürnberger Parteitags einstellen[1]… Dann peitschte die Regierung vor der Sommerpause eine neue Ausweisungsbestimmung durch das Parlament, kurz danach wurde die erste Rumänin (aus einem EU-Land also stammend) zu einer Haftstrafe verurteilt und anschließend des Landes verwiesen, weil sie in Kopenhagen gebettelt hatte. (Vermeldet wurde über den Sommer, dass die Bettelei in Kopenhagen ab- und in Oslo und Stockholm zugenommen habe.) An diese sich verfestigende dänische Politik der Ausländerfeindlichkeit (man kann gespannt sein, wie die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof auf die letzten Verschärfungen reagieren werden) muss erinnert werden, wenn die Hygge-Kerzen in diesen Zeiten die Sinne vernebeln.
So lud die Königlich Dänische Botschaft für den 9. Oktober 2017 zu einem „Glücks-Seminar“ (mit einer Dauer von 90 Minuten!) ein. An der Veranstaltung überraschte nicht so sehr, dass sich alle sieben „Glücksexperten“ im Großen und Ganzen einig waren, sondern dass das Publikum – vom Moderator eifrig animiert – offenbar enthusiasmiert nach jedem Kurzstatement applaudierte, und dass es in der Geschichte des Felleshus wohl eine der am besten besuchten Veranstaltungen war: Das Auditorium lief über, es wurde ins Foyer übertragen. Man muss sich fragen, warum offenbar ein breites Publikum ein Regressionsbedürfnis verspürt und in Verzückung verfällt, wenn es mit Banalitäten überpudert wird.
Immerhin legten die Gespräche am Ende der Veranstaltung dann doch einige aufgekommene Zweifel an der demonstrierten Harmonie offen – ob die dänische Wirklichkeit von heute tatsächlich so gemütlich ist (siehe oben)?
Schließlich gibt es auch erfrischend kritische Stimmen, die das Bild von der schönen heilen Hygge-Welt in Zweifel ziehen:
Lesen Sie hier Clara Otts Artikel „Hygge ist nichts als eine schöne Realitätsflucht“.
Zu viele Hoffnungen soll man sich aber mit diesen Einsprüchen nicht machen – wenn ein geschicktes Nation-Branding, eine mediale Vermarktung durch Dritte (auf dem Buch- und Zeitschriftenmarkt wird es langsam unübersichtlich vor lauter Hygge) und ökonomische Macht zusammenkommen (s. folgenden Link), dann wird das Gleis für den Hygge-Zeitgeist auf Weiterfahrt gestellt bleiben:
So besetzt eine Supermarktkette das Thema.
Aber, bleiben wir in Erwartung, welche Sau als nächste durch das Dorf gejagt wird. Der Trend scheint weiter gen Norden zu ziehen: Norwegen hat Dänemark an der Spitze des „Weltglücksberichts“ abgelöst. Kommt nach „hygge“ nun „kos“ als neuer Trend zu uns?
Prof. em. Dr. Bernd Henningsen, Nordeuropa-Institut, Humboldt-Universität zu Berlin
[1] Patrik Svensson, „Så bakar du Inger Støjbergs hyggetårta”, Sydsvenskan, 19.03.2017, S. C8 bzw. https://www.sydsvenskan.se/2017-03-19/blanda-smor-och-brunt-farinsocker-vispa-tills-du-blir-trott-i-axelmakterna [15.10.2017]. Schon im August 2017 stand die 65. Verschärfung der Ausländergesetze an https://www.b.dk/politiko/stoejberg-klar-med-stramning-nr.-65-man-skal-ikke-kunne-lyve-sig-til-goder-i [19.08.2017].