- 05.07.2019
- Kategorie Politik / Gesellschaft
Von Dänemark lernen?
Seit Ende Juni hat Dänemark wieder eine sozialdemokratische Regierung. Wie es der dänischen Tradition entspricht, regiert Mette Frederiksen mit einem Minderheitskabinett. Sie muss nun sehen, wie sie mit ihrem relativ unverbindlichen Regierungsprogramm jeweilige Mehrheiten gewinnen kann: Für ihre als „links“ kategorisierte Sozial- und Wirtschaftspolitik dürfte sie diese bekommen, haben doch die Parteien links der Mitte seit der Wahl am 5. Juni eine Mehrheit im Parlament. Für ihre Vorstellungen einer Fortsetzung der – gelinde gesagt – fremdenfeindlichen und islamophobischen Ausländerpolitik wird sie es schwer haben, haben sich doch u.a. die Sozialisten mit deutlichen Worten gegen einen solchen Kurs geäußert.
Der ihr nun in der Regierung bevorstehende Teufelsritt – „linke“ Sozialpolitik, gemengt mit „rechter“ Ausländerpolitik – hat hierzulande wissenschaftliche Experten, Ratgeber in den Parteien, Kommentatoren in den Feuilletons und Politikredaktionen nicht davon abhalten lassen, aus dem Erfolg der dänischen Sozialdemokraten eine Rezeptur gegen das Siechtum der deutschen Genossinnen und Genossen herausdestillieren; selbst solche der SPD gegenüber freundlich gesinnte Politexperten und „Querdenker“ in der Partei empfehlen den dänischen Weg. Man fragt sich, woher auf einmal die vielen Dänemark-Fachleute herkommen? Zeichneten sich die deutschen Skandinavien-Diskurse doch bislang nicht durch sonderliches Interesse, gar durch Kompetenz an den nordischen Nachbarn aus, von löblichen Ausnahmen einmal abgesehen. Nur zum seit ein paar Jahren grassierenden Hygge-Hype, der publizistischen Aufregung um die dänische Gemütlichkeit, gibt es eine ausufernde Literatur, vornehmlich in den Bahnhofsbuchhandlungen. Wie diese Verordnung für die SPD allerdings angewendet werden soll, dazu gibt es keinen Beipackzettel, es gibt auch keine Warnungen vor den Nebenwirkungen oder gar Anzeigen für Gegenmittel, sollte die Therapie aus dem Ruder laufen. Das Rezept wird ausgestellt, ohne vorhergehende Anamnese, in der Regel klingt nicht einmal ein (historisches) Minimalwissen zur dänischen Politik und Kultur bei den Ratschlägen an die deutschen Genossen durch.
Halten wir fest:
- Der politische Rechtsruck ist kein Phänomen von heute: Seinerzeit als „Fortschrittsparteien“ gegründet, begann 1972 der moderne europäische (Rechts-) Populismus in Dänemark und Norwegen im Umfeld der EWG-Volksabstimmungen. Wir hatten es seinerzeit in beiden Ländern mit Steuerprotestparteien zu tun, die sich einem neoliberalen Wirtschaftskurs verschrieben, ja auf archaische Modelle der Staatsfinanzierung zurückgriffen (Steuern nur auf Grund und Boden etwa), alle Staatsaufgaben seien gegen Null zu fahren; das dänische Publikum amüsierte sich über die Komödianten und machte sie 1973 auf Anhieb zur zweitstärksten Fraktion im Parlament – ihr Chef, Mogens Glistrup, wanderte zehn Jahre später wegen Steuerhinterziehung ins Gefängnis. Im Zuge ihrer Selbstzerlegung wurde aus der dänischen „Fortschrittspartei“ dann die „Dänische Volkspartei“, die norwegische behielt ihren Namen und radikalisierte sich nicht in gleicher Weise wie ihr dänischer Mitspieler, mit etwas gutem Willen kann man letztere heute zu den rechtsliberalen Parteien rechnen. Mit Migrationsfeindlichkeit, Islamophobie, nationalistischer Rhetorik und der Beschwörung einer Ausplünderungsgefahr des Wohlfahrtsstaates durch Ausländer inszenierte sich die Volkspartei zur Bewahrerin eines dänischen Wohlgefühls – und fakte sich durch die dänische Geschichte, dass es nur so eine Freude war: Dänemark sei nie ein Einwanderungsland gewesen (dabei war das Königreich bis ins 19. Jahrhundert hinein ein paradigmatischer, mehrsprachiger Multikulti-Staat gewesen, das dänische Königshaus ist ein deutsches, im Wappen der Dynastie sind eine Vielzahl anderer Völker benannt), Dänemark würde von Fremden überlaufen (dabei sind die Einwandererzahlen vergleichsweise gering), die dänische Wirtschaft könne aus eigener Kraft gehen (dabei ist die Nation wie kaum eine andere vom Handel und vom Austausch mit der Welt abhängig, sie braucht zudem dringend Arbeitskräfte).
- Ausgeblendet wird, dass die Parlamentswahlen vom Juni keineswegs mit einem Sieg der Sozialdemokraten endeten, sondern mit einem Sieg der Populisten: Sie haben es – lange absehbar – in den vergangenen mehr als 40 Jahren geschafft, das politische Spektrum Dänemarks so weit nach rechts zu verschieben, dass die Parteien der Mitte, einschließlich der Sozialdemokratie, mit einem Programm reüssieren konnten, das im besten Falle als fremdenfeindlich, bei näherer Betrachtung durchaus als menschenverachtend bezeichnet werden muss; das betrifft nicht nur die Errichtung eines absurden „Wildschweinzauns“ an der deutsch-dänischen Grenze, sondern auch die Verschreibung von Erziehungsprogrammen für nicht-westliche Einwohner, die Verpflichtung zur öffentlichen Kindererziehung und die Ghettoisierung islamischer Einwanderer. Schon längst hätte die Europäische Kommission die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens diskutieren müssen. Vor nicht wenigen Jahren noch fiel der deutschen Sozialdemokratie die Nationalisierung und die Rhetorik der Ausgrenzung auf und sie distanzierte sich von den dänischen Nachbarn. Noch 1999 hatte der sozialdemokratische Ministerpräsident Poul Nyrup Rasmussen, der Vor-Vorgänger der neuen Regierungschefin, von der Dänischen Volkspartei gesagt, sie würde nie „stubenrein“ werden, seither ist diese Floskel ins dänische politische Vokabular eingegangen. Für die dänischen Sozialdemokraten mögen die Volkspartisten weiterhin nicht stubenrein sein – aber ihr Ausländerprogramm haben sie gekauft.
- Ausgeblendet wird auch, dass die Erdrutschverluste der Dänischen Volkspartei nur zu einem geringen Teil von der Sozialdemokratie aufgefangen wurden, in der Mehrzahl liefen die Wähler zu den Rechtsliberalen, zur Konservativen Partei oder den neuen (zum Teil unterirdischen) Splitterparteien am äußersten rechten Rand; ja, die dänischen Genossen haben mit ihrem links-rechts-Kurs, 0,4 Prozentpunkte verloren, die Sozialisten hingegen 3,4 und die Sozialliberalen vier gewonnen – sie hatten sich vom sozialdemokratischen Kurs distanziert. Die Wählerwanderungen geben keinen Beleg dafür, dass die Strategie des Links-Rechts-Programms wirklich erfolgreich war.
- Die Experten-Empfehlungen an die deutsche Sozialdemokratie sind billig, sie insinuieren, dass wir es mit einer grenzüberschreitenden politischen Kultur zu tun haben, dass dänische Rezepte in Deutschland wirken werden. Die dänische Sozialdemokratie (wie auch die des schwedischen Nachbarn) ist nie theoriegeritten gewesen oder von Prinzipien geleitet wie due deutsche – schon am Beginn der Bewegung waren die dänischen Genossen entsetzt über die in Deutschland geführten theoretischen Debatten über die Diktatur des Proletariats und die marxistische Verelendungstheorie (es ging u.a. um den Streit zwischen Bernstein und Kautsky); stattdessen kümmerten sie sich lieber um die praktischen Belange der kleinen Leute und halfen, eine pragmatische Regierungspolitik umzusetzen. Der immer wieder gefeierte Kompromiss, den der sozialdemokratische Ministerpräsident Thorvald Stauning mit den beiden liberalen Parteien just in der Nacht vom 29. auf den 30. Januar 1933 einging, gilt als politischer Paradefall für eine parteiübergreifende, pragmatische Politik, mit der eine politisch-ökonomische Vereinbarung gelang, die zum Grundstock für die Überwindung der Weltwirtschaftskrise wurde und zur Immunisierung gegenüber dem Nationalsozialismus beitrug.
Es braucht wohl kaum betont zu werden, dass eine Aneignung der verschärften Einwanderungs- und Migrationspolitik, wie sie in Dänemark vorgemacht wird, die deutsche Sozialdemokratie zerreißen würde, eine Teil-Wiedervereinigung mit der Wagenknecht-Linken, ein Schwenk zum Programm eines Thilo Sarrazin käme einer Selbstaufgabe der Partei gleich – die schließlich auch einmal eine Exil-Partei gewesen ist.
- Dänische Politik, das ist auch ein wesentlicher Grund für die heutige nationale Abschottung und die Betonung des Eigenen, ist strukturell bottom-up organisiert; dänische Politiker sind gerne geneigt, sich nach „Volkes Stimme“ zu richten, sie passen sich den (ja wechselnden) Stimmungen an. „Was kümmert mich mein Reden von gestern“, ist ein in der Tat nicht immer nur ironisch gemeinter Satz. Dass Dänemark sich vier Vorbehalte gegenüber der europäischen Integrationspolitik ausbedungen hat, hat mit dieser Politik von unten zu tun: Obwohl die politische Klasse die Entscheidungen für falsch, ja für kontraproduktiv hält, ist in drei Volksabstimmungen und mehreren Protokollnotizen bestätigt worden, dass Dänemark nicht den Euro einführt (aber an allen Regularien des Euroraumes teilnimmt, ohne ein Mitbestimmungsrecht zu haben), dass das Land nicht an der grenzüberschreitenden Politik von Sicherheit und Verteidigung teilnimmt, nicht in Staatsbürgerschaftsfragen und nicht an der europäischen Kooperation von Polizei und Justiz (obwohl zugestandenermaßen die Terrorismusbekämpfung eine hohe Priorität hat und nicht vom Land allein bewerkstelligt werden kann).
Dieser Blick „von unten nach oben“ unterscheidet die dänische von der schwedischen Politik: In Schweden gilt als akzeptiert und wird mit großem Vertrauen des Publikums begleitet, dass Regierung und Parlament die Sachwalter des allgemeinen Interesses sind, dass auf Expertenwissen und auf eine breite gesellschaftliche Diskussion gestützt es schon richtig ist, dass u.a. der Alkoholkonsum auf Restriktionen stößt, dass Prostitution verboten ist, dass Rauchen ein Übel und also verboten gehört … Diese weithin anerkannte top-down-Politik hat dazu geführt, dass Schweden (jedenfalls bis 2015/16) die liberalste Migrationspolitik in Europa umsetzte: Einwanderer sind willkommen, weil dies zum Wertekanon der Gesellschaft gehört und weil sie auf dem Arbeitsmarkt gebraucht werden.
Schließlich 6.: Seit der für die Volkspartei mit verheerendem Ergebnis ausgegangenen Parlamentswahl wird in Dänemark nicht nur die Gesamtverschiebung des politischen Spektrums nach rechts diskutiert, es kommt auch in den Fokus die über die letzten zwei Jahrzehnte immer heftiger gewordene Beschädigung des öffentlichen Diskurses, die aufgetürmten Lügengebäude zur dänischen Geschichte und Kultur – durch eine von der Dänischen Volkspartei geduldete konservativ-bürgerliche Regierung unter Lars Løkke Rasmussen, davor unter Anders Fogh Rasmussen. Arroganz, Misstrauen, Anschuldigungen, Falschmeldungen, ja Lügen haben verdeckt, was die Traditionen der dänischen politischen Kultur sind: Offenheit, Toleranz und Kompromissbereitschaft. Nun gibt es Anzeichen, dass der angerichtete Diskursschaden aufgearbeitet wird.
Ob die Wiederherstellung ziviler politischer Umgangsformen mit einer Links-Rechts-Politik gelingen kann, mag man hoffen – Zweifel sind angebracht. Um zu meinen, dass die dänischen Sozialdemokraten eine Blaupause für die deutsche (nicht nur sozialdemokratische) Unordnung geliefert hätten, dazu gehört viel Phantasie.
Prof. em. Dr. Bernd Henningsen, Nordeuropa-Institut, Humboldt-Universität zu Berlin
Dieser Text erschien in gekürzter Fassung in der Süddeutschen Zeitung vom 29. Juni 2019